Stout, Maria
lediglich, wie es gerne von
Soziopathen behauptet wird, ein psychologischer Pferch für die Massen? Ob wir
sie nun laut aussprechen oder nicht, solche impliziten Zweifel ragen
bedrohlich über einem Planeten empor, dessen größte Berühmtheiten der
Geschichte seit Jahrtausenden, bis hin zum heutigen Tag, stets Gestalten waren,
deren Unmoral jeden Maßstab gesprengt hat. Und in unserer heutigen Kultur ist
es fast schon in Mode, andere Menschen auszunutzen, und skrupellose
Geschäftspraktiken scheinen mit grenzenlosem Reichtum belohnt zu werden. Aus
ihrer persönlichen Erfahrung können die meisten von uns Beispiele dafür
anführen, dass ein skrupelloser Mensch gewonnen hat, und manchmal scheint es
fast so, als sei ein anständiger Mensch nur ein Trottel.
Stimmt es
wirklich, dass Lügen kurze Beine haben, oder ist es nicht letztlich doch so,
dass der nette Kerl als letzter durchs Ziel geht? Wird die Minderheit der
Schamlosen tatsächlich die Erde übernehmen?
Solche
Fragen reflektieren ein Thema, das ein zentrales Anliegen dieses Buches ist.
Es beschäftigt mich seit der Zeit kurz nach den Katastrophen vom 11. September
2001, die allen rechtschaffenen Menschen große Pein verursacht haben und
einige hat verzweifeln lassen. Ich bin ein durchweg optimistischer Mensch, aber
seinerzeit haben ich und einige andere Psychologen und Studenten befürchtet,
dass unser Land und viele andere Nationen für lange Jahre in hasserfüllten
Konflikten und von Rachegefühlen angestachelten Kriegen versinken würden. Wenn
ich versucht habe, mich zu entspannen oder einzuschlafen, kam mir immer wieder
aus dem Nichts eine Zeile aus einem dreißig Jahre alten apokalyptischen Lied in
den Sinn: "Lachend entfaltet Satan seine Schwingen." Der beflügelte
Satan vor meinem geistigen Auge war kein Terrorist, sondern ein dämonischer
Manipulator, der die Anschläge der Terroristen benutzt hat, um auf der ganzen
Welt Hass zu schüren.
Das
Interesse an meinem speziellen Thema "Soziopathie gegen Gewissen"
wurde bei mir in einem Telefongespräch mit einem Kollegen geweckt, einem guten
Menschen, der für gewöhnlich optimistisch und voller Zuversicht ist, aber
seinerzeit - wie der Rest der Welt - wie benommen und demoralisiert war. Wir
sprachen über einen gemeinsamen Patienten, dessen suizidale Tendenzen sich in
beunruhigendem Maße verstärkt hatten, anscheinend wegen der Katastrophen in den
USA (und dem es inzwischen wieder erheblich besser geht, wie ich erleichtert berichten
möchte). Mein Kollege sprach davon, wie zerrissen er sich selbst fühlte und
dass er deswegen vielleicht nicht das übliche Maß an emotionaler Kraft für
seinen Patienten würde aufbringen können. Dieser außerordentlich fürsorgliche
und verantwortungsvolle Therapeut befürchtete, dass er, wie jedermann
überwältigt von den Ereignissen, seine Pflicht vernachlässigen könnte. Mitten
in seiner Selbstkritik hielt er inne, seufzte, und sagte mir in einem für ihn
gänzlich untypischen Tonfall: "Weißt du, manchmal frage ich mich: Warum sollte man
ein Gewissen haben? Damit wird man doch nur zum Verlierer."
Ich war
außerordentlich irritiert durch seine Frage, vor allem weil Zynismus so gar
nicht zu seinem Wesen passt, das man wohl sonst als gesund und munter bezeichnen
kann. Nach einer Weile antwortete ich mit einer Gegenfrage: "Dann sage mir
doch, Bernie, wenn du die Wahl hättest, ich meine, eine wirklich freie Wahl in
der Angelegenheit - die du natürlich nicht hast -, würdest du dich dafür
entscheiden, ein Gewissen zu haben, so wie du jetzt eines hast, oder würdest du
es vorziehen, ein Soziopath zu sein und ... also, jeder Schandtat fähig zu
sein?"
Er dachte
einen Moment nach und sagte dann: "Du hast Recht," (obwohl ich keine
Gedankenübertragung versucht hatte). "Ich würde mich für ein Gewissen
entscheiden."
"Warum?"
drängte ich ihn.
Nach einer
Pause und einem langgezogenen "Na ja ...", sagte er schließlich, "Also,
Martha, ich weiß nicht, warum. Ich weiß einfach nur, dass ich mich für das
Gewissen entscheiden würde."
Und
vielleicht wünsche ich mir das nur, aber ich hatte den Eindruck, dass sich
Bernies Tonfall nach dieser Aussage ein wenig geändert hat. Er klang etwas
weniger resigniert, und wir begannen darüber zu sprechen, wie eine unserer
Standesorganisationen die Menschen in New York und Washington unterstützen
wollte.
Für lange
Zeit nach diesem Gespräch war ich fasziniert von dieser Frage meines Kollegen "Warum
sollte man ein Gewissen
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