Stout, Maria
medizinisches Konzept seltsam
widersprüchlich. Ganz im Gegensatz zu Krebs, Magersucht, Schizophrenie, oder
sogar den anderen "Charakterstörungen", wie zum Beispiel Narzissmus,
scheint Soziopathie auch einen moralischen Aspekt zu haben. Soziopathen werden
fast immer als böse oder diabolisch angesehen, selbst (oder gerade) von
Psychologen, und das Gefühl, dass diese Patienten irgendwie moralisch anstößig
und beängstigend sind, schlägt sich lebhaft in der Literatur nieder.
Robert
Hare, Professor der Psychologie an der Universität von British Columbia in
Kanada, hat die Psychopathie-Checkliste 7 entwickelt,
einen Fragebogen, der mittlerweile weltweit unter Forschern und Klinikern als
Standard-Diagnoseinstrument anerkannt ist. Über seine Probanden schreibt Hare,
der leidenschaftslose Wissenschaftler: "Jeder Mensch, einschließlich der
Experten, kann von ihnen vereinnahmt, manipuliert, betrogen und verwirrt
zurückgelassen werden. Ein geschickter Psychopath kann ein Konzert auf der
Gefühlsklaviatur jedes Menschen spielen. ... Ihr bester
Schutz ist es, das Wesen dieser Raubtiere in Menschengestalt zu verstehen."
Und Hervey Cleckley, Autor des 1941 erschienenen Klassikers The Mask
of Sanity 9 (Die Maske der Vernunft), beklagt
sich so über den Psychopathen: "Schönheit und Hässlichkeit - es sei denn,
in einem sehr oberflächlichen Sinne - bedeuten ihm nichts. Das Böse, die Liebe,
das Grauen und der Humor können ihn nicht berühren."
Man könnte
sich leicht auf den Standpunkt stellen, dass die Bezeichnungen "Soziopathie"
und "antisoziale Persönlichkeitsstörung" falsch gewählt sind und
eine variable Ansammlung von Ideen reflektieren, und dass das Fehlen eines
Gewissens als psychiatrische Kategorie ohnehin nicht sinnvoll ist. In diesem
Zusammenhang muss beachtet werden, dass alle anderen psychiatrischen Befunde
(einschließlich des Narzissmus) mit einem gewissen Ausmaß an subjektiv
empfundenem Leiden oder Unbehagen des Patienten einhergehen. Soziopathie ist
somit die einzige "Störung", die den Betroffenen nicht stört - sie verursacht keine subjektiven Beschwerden.
Soziopathen sind oft ganz zufrieden mit sich und ihrem Leben, und vielleicht
gibt es gerade deswegen keine wirksame "Therapie". In der Regel
begeben sich Soziopathen nur dann in eine Therapie, wenn das von einem Gericht
angeordnet wurde oder wenn anderweitige Vorteile durch den Status als Patient
erlangt werden können. Der Wunsch, sich zu bessern, ist selten der wahre
Beweggrund. All dies wirft die Frage auf, ob ein fehlendes Gewissen eine
psychiatrische Störung oder ein strafrechtlich relevanter Umstand ist - oder
gar etwas völlig anderes.
Einzigartig
in seiner Eigenschaft, selbst gestandene Fachleute zu enervieren, nähert sich
das Konzept der Soziopathie bedrohlich unseren Vorstellungen von Seele und dem
Kampf des Guten gegen das Böse, und diese Assoziation erschwert es, sachlich
mit dem Thema umzugehen. Und der unvermeidliche, dem Problem innewohnende
Standpunkt des "die gegen uns" wirft wissenschaftliche, moralische
und politische Fragen auf, an denen man verzweifeln könnte. Wie kann man ein
Phänomen wissenschaftlich untersuchen, das zumindest teilweise moralischer
Natur ist? Wer sollte unsere professionelle Hilfe und Unterstützung empfangen,
die "Patienten" oder die Menschen, die sie ertragen müssen? Indem die
psychologische Forschung Methoden entwickelt, Soziopathie zu "diagnostizieren"
- wen sollten wir testen? Sollte überhaupt ein Bürger einer freien Gesellschaft
einer solchen Diagnose unterzogen werden? Und nachdem jemand unzweifelhaft als
Soziopath diagnostiziert worden ist, was - wenn überhaupt etwas - kann die
Gesellschaft mit dieser Information anfangen? Kein anderer Befund wirft
solcherlei ethisch und fachlich unstatthafte Fragen auf. Die Soziopathie, mit
ihrer bekannten Verbindung zu Verhaltensweisen wie Prügel und Vergewaltigung
in der Ehe über Serienmord bis hin zur Anstiftung von Kriegen ist im gewissen
Sinne die letzte und beängstigendste Herausforderung der Psychologie. 10
In der
Tat, die irritierendsten Fragen werden kaum jemals auch nur geflüstert: Können
wir mit Sicherheit sagen, dass sich Soziopathie nicht für das jeweilige
Individuum auszahlt? Ist Soziopathie überhaupt eine Störung, oder ist sie nicht
vielmehr zweckmäßig? Ebenso lästig ist die Unsicherheit auf der Rückseite der Medaille:
Zahlt sich das Gewissen aus für das Individuum oder die
Gruppe, die es besitzt? Oder ist das Gewissen
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