Strafbataillon 999
bekannt vor, aber er wußte nicht, woher er sie kannte; denn es war eigentlich keine menschliche Stimme mehr, es waren Laute, die auch ein Tier formen könnte, nicht formen, sondern ausstoßen, ein Tier, das in schrecklicher Angst und Furcht plötzlich die Sprache gefunden hatte, um seine Qual allen verständlich herauszuschreien. »Jesus Maria …«, sagte die Stimme, wimmerte sie, seufzte, schrie, flüsterte, und alles das zusammen oder nichts davon, »Jesus Maria – was – was …?« fragte sie, und dann wieder: »Jesus Maria …«
»Das Rattengesicht!« rief Wiedeck, sprang über den liegenden Deutschmann und kroch aus dem Bunker. Deutschmann sah seine beschlagenen Sohlen, er sah ganz genau, daß viele Nägel fehlten, und dann verschwanden die Sohlen, er stemmte sich hoch, sprang zum Ausgang, fiel auf die Knie und kroch heraus. Seine Tasche war ihm im Wege, sie hing zwischen seinen Beinen und schleifte am Boden; mit einer wütenden, kurzen Bewegung schleuderte er sie auf den Rücken, und dann war er draußen, und das Wimmern war jetzt ganz nah.
An der Grabenwand lehnte das Rattengesicht. Sein Gesicht war grau verfallen, die Nase stach spitz und gelb heraus. Die Lippen waren wie im Krampf von den schwarzen Zahnstummeln zurückgezogen, und aus seinem Mund kamen, ohne daß sich die Lippen bewegten, die gepreßten, wimmernden Laute: »Jesus Maria – Jesus Maria …« Seine Augen stierten auf etwas Blutiges, das vor ihm lag.
Und erst jetzt sah Deutschmann, daß der linke Arm des Rattengesichts auf der ihm abgekehrten Seite an seiner Wurzel abgerissen war. Aus der zerfetzten, riesigen Wunde schwappte Blut, lief die Uniform herunter, färbte den schmutzigen Schnee rot und bildete auf dem gefrorenen Grasboden um Rattengesichts Stiefel eine kleine, schnell größer werdende Pfütze. Rattengesichts Knie gaben nach. Er rutschte die Grabenwand herab und blieb auf dem Boden, mitten in der Blutlache sitzen. Dabei starrte er immer noch auf den abgerissenen Arm, der mit abwärtsgekehrter Handfläche und gekrümmten Fingern vor ihm lag. Er hob die rechte Hand empor, als wollte er nach irgend etwas greifen oder auch Halt suchen, aber sein Arm sank kraftlos herab, und er kippte seitwärts um. Dabei sagte er immer noch und nur das: »Jesus Maria – Jesus Maria …«
Deutschmann schob den erstarrten, leichenblassen Wiedeck zur Seite und beugte sich über das Rattengesicht. Mit fliegenden Händen machte er die Tasche auf und kramte sinnlos in ihr herum, ohne den Blick von Rattengesicht zu wenden. Doch dann verharrte er mitten in der Bewegung.
Es war sinnlos.
Er sah, wie sich über das Gesicht des Verwundeten der Tod ausbreitete.
Hinter einer Kate, in der Nähe des Kompaniegefechtsstandes der 2. Kompanie des Strafbataillons, wurde Schütze Werner Katzorki, das Rattengesicht, begraben. Sein Grab lag etwas abseits der zwei Reihen schiefer, schneeverwehter Birkenkreuze; am Tage, als er gefallen war, schlug eine verirrte Granate zwischen sie und riß eine flache Mulde in das steinhart gefrorene Erdreich: Eine willkommene Hilfe für die zwei Hiwis, die Gräber auszuheben hatten.
Das Rattengesicht wurde ohne viel Aufhebens beerdigt. Es war Nacht, und die Kompanie arbeitete vorne an den Ausschachtungen. Nur einige wenige von denen, die am Tage draußen waren, standen etwas hilflos um die flache Mulde, die Katzorkis Grab werden sollte. Der Tote war schon steif gefroren: Mit weit offenem, grinsendem Mund lag er auf einer Zeltplane neben dem Loch. Auf seinem Bauch lag der abgerissene Arm, die riesige Wunde schimmerte rosig durch den weißen Reif, der sich auf ihr niedergeschlagen hatte.
»Na denn«, sagte Wiedeck zu den beiden Hiwis, die teilnahmslos danebenstanden, »macht weiter.«
Die Hiwis packten die Zeltplane auf einer Seite, hoben sie an und rollten den steifen Körper in die Grube; es war verboten worden, die Toten mit Zeltplanen zu begraben. Zeltplanen waren rar, Lebende konnten sie gut gebrauchen, Tote aber brauchten keine mehr.
Vorne, an der Front, blitzte es unausgesetzt. Das Krachen des Artilleriefeuerüberfalls rollte dumpf über die Ebene, dazwischen hörte man das rasende Rattern der deutschen Maschinengewehre und das bedächtigere Tacken der russischen. Ein Hiwi stieg in das Loch und bettete Katzorki so, daß sein Gesicht gegen den stumpfschwarzen, nie ganz dunklen Himmel sah.
Dann buddelten sie ihn zu.
Es wurde keine Rede gehalten und keine Salve geschossen. Bevor der Tote noch ganz zugedeckt war, verließen
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