Strafzeit
Villingen daran erkenne, dass man den Wintermantel nun offen trage.
Es dämmerte bereits in der Südstadt. Bloß nicht noch mal hinfallen, dachte Hummel und achtete auf jeden Schritt.
Kurz darauf raste Klaus Riesle mit seinem alten Opel Kadett und überhöhtem Tempo in eine Parkbucht der Saarlandstraße. Am Heck prangte immer noch der alte Aufkleber: »SERC – das Höchste im Schwarzwald«.
Klaus war klein, schwarzhaarig, drahtig und Lokaljournalist beim Schwarzwälder Kurier. Deshalb wusste er immer das Neueste aus der Stadt. Momentan allerdings war er nicht ganz auf dem letzten Stand, denn er hatte Urlaub und wohl deshalb für Hubertus’ Geschmack zu gute Laune.
»Alles fit, Alter?«
Schweigen.
»Mensch, was ist denn los?«
Hubertus grummelte etwas Unverständliches.
»Ist es immer noch wegen Elke?«
»Elke, das defekte Auto, die Schüler, die Kälte …«
»Mensch«, fuhr ihn Klaus an. »Jetzt reiß dich mal am Riemen! Es ist Wochenende, und in ein paar Tagen sind die ›Wild Wings‹ aufgestiegen.«
Er stimmte einen alten Fangesang zur Melodie von »Go West« an: »Und sooo spielt man Eishockey, und sooo spielt man Eishockey!«
Hubertus’ schlechte Laune war auch sechs Kilometer weiter am Ortseingang von Schwenningen noch nicht verflogen.
»›Wild Wings‹! Was für ein bescheuerter Name. Ich sag dir, diese Amerikanisierung ist einfach nicht zum Aushalten! SERC heißt der Verein. Schwenninger Eis- und Rollsportclub 1904 e.V.!«
Klaus sagte nichts. Er wusste, dass Widerspruch Hubertus zu noch längeren Monologen anstachelte. Der war ohnehin mächtig in Fahrt: »Unser jetziges Team ist spitze – aber erinnere dich mal, was wir Ende der Achtziger zu bieten hatten. Du weißt schon: Wally Schreiber, Grant Martin, Bruce Hardy, George Fritz …«
Klaus winkte ab und konzentrierte sich dann auf die Parkplatzsuche.
»Restlos ausverkauft«, bemerkte er. »Ohne meine Kontakte wären wir wohl gar nicht an Karten rangekommen. Na ja, die ›Wild Wings‹ können das Geld gebrauchen.«
»Der SERC.«
»Okay, dann eben der SERC. Aber du musst schon zugeben: Tabellenführer nach der Hauptrunde, seit neun Spielen keine Heimniederlage … Da kannst eigentlich nicht mal du meckern, Huby.«
Er brachte den Wagen neben dem Gustav-Strohm-Stadion zum Stehen, wo der BSV in den Siebzigerjahren fußballerisch in der zweiten Bundesliga für Furore gesorgt hatte.
Jetzt spielte die sportliche Musik im Bauchenbergstadion, das vor ein paar Jahren grundlegend umgebaut, aufgehübscht und nach einem Sponsor zur Arena umbenannt worden war. Brauchte man früher leere Bierkisten, um einen einigermaßen guten Blick auf das Eis zu ergattern, so hatte man diesen jetzt ohne jegliches Hilfsmittel beispielsweise vom schicken Oberrang, der durchweg mit bequemen Sitzschalen ausgestattet war.
Wo man früher wegen einer offenen Hallenseite befürchten musste, schon im zweiten Drittel dem Kältetod zu erliegen, konnte man nun die klimatisierten Vorteile einer Multifunktionsarena genießen. Außerdem gab es deutlich mehr Sitzplätze als früher, wobei dennoch auf die traditionellen Fans mit ihrer Vorliebe für Stehplätze Rücksicht genommen worden war. Ebenso auf die VIPs, für die es eine verglaste Lounge gab, die über der alten Sitzplatztribüne zu schweben schien und aufgrund der jüngsten Erfolge der »Wild Wings« beinahe überquoll. Wer im wirtschaftlichen und politischen Leben der Region etwas auf sich hielt, musste sich hier sehen lassen – und ab und an riskierte man zwischen den Häppchen auch einen Blick aufs Geschehen, das sich unten auf dem Eis abspielte.
Dem über Jahrzehnte chronisch klammen Verein schien jedenfalls eine rosige Zukunft zu blühen – vorausgesetzt, er schaffte nun auch sportlich den Aufstieg.
Erste Geräusche drangen aus der Arena auf den Parkplatz. Hubertus’ Stimmung stieg: Derbyfieber. Finalfieber.
»Heute müssen sie einfach gewinnen«, sagte er. »Der SERC gehört schließlich nach ganz oben!«
Außer Hummel und Riesle waren noch sechstausendzweihundertfünfzehn andere Eishockeyfans da – falls die offiziellen »Ausverkauft«-Angaben stimmten. Beinahe tausend davon waren aus dem hundertzwanzig Kilometer entfernten Ravensburg angereist und ebenso heiß auf den Aufstieg wie die Schwenninger. Optisch unterschieden sich die Fans der beiden Teams kaum – die Vereinsfarben Blau-Weiß dominierten hier wie da. Hubertus brachte sich auf der Gegengerade in Stimmung, indem er finster den Fanblock des
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