Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Stunden meinen letzten Hügel zu erklimmen, um meine letzte Kurve zu biegen und dann mit meiner Entdeckungsreise durch Amerika fertig zu sein, vermutlich für immer. Ich zog meine Brieftasche hervor und warf einen Blick hinein. Ich hatte noch fast 75 Dollar. Mir kam die Idee, nach Minneapolis zu fahren und mir ein Baseballspiel der Minnesota
Twins anzusehen. Es schien eine ausgezeichnete Idee zu sein. Wenn ich wie ein Wahnsinniger aufs Gaspedal treten würde, könnte ich in drei Stunden dort sein – rechtzeitig zum Spielbeginn. An der nächsten Straßenecke kaufte ich am Automaten eine Ausgabe der USA Today und ging in ein Café. Ich rutschte in eine Nische und schlug ungeduldig die Sportseiten auf, um zu sehen, ob die Twins zu Hause spielten. Sie spielten nicht zu Hause. Sie waren in Baltimore, tausend Meilen weit weg. Ich war verzweifelt. Ich konnte nicht begreifen, dass ich die ganze Zeit in Amerika gewesen war, ohne auch nur einmal auf den Gedanken gekommen zu sein, mir ein Baseballspiel anzusehen. Erst jetzt, am letzten Tag meiner Reise, fiel es mir ein. Was für ein unglaublich dummes Versäumnis.
Mein Vater hat uns immer zu den Spielen mitgenommen. In jedem Sommer stiegen er und mein Bruder und ich ins Auto und fuhren für drei oder vier Tage nach Chicago oder Milwaukee oder St. Louis. Nachmittags gingen wir dann ins Kino, und am Abend sahen wir uns ein Spiel an. Wir waren im siebten Himmel. Wir waren schon immer Stunden vor Spielbeginn im Stadion. Weil Dad ein angesehener Sportjournalist war – nein, zum Teufel mit der Bescheidenheit, mein Dad war einer der besten Sportjournalisten des Landes und als solcher weit und breit anerkannt –, konnte er schon vor dem Spiel auf die Pressetribüne und aufs Spielfeld, und dorthin nahm er uns immer mit, was wir ihm hoch anrechneten. Während er Leute wie Willie Mays und Stan Musial interviewte, durften wir neben ihm am Schlagmal stehen. Wer kein Amerikaner ist, wird damit nicht viel anfangen können. Ich weiß, aber glauben Sie mir, es war ein echtes Privileg. Wir saßen in den Unterständen (die immer nach Tabaksaft und Urin rochen; keine Ahnung, was die da alles abgelassen haben) und gingen mit in die Umkleideräume und sahen zu, wie sich die Spieler für das Spiel fertig machten. Ich habe Ernie Banks nackt gesehen. Das können nicht viele Leute von sich sagen, nicht einmal in Chicago.
Am meisten genoss ich es, um das Spielfeld zu schlendern und die Augen der Kids auf den Tribünen voll Neid auf mich gerichtet zu fühlen. Mit meiner Little-League-Baseballmütze auf dem Kopf und einer supertollen Plastiksonnenbrille auf der Nase kam ich mir vor wie Mr. Cool. Und das war ich auch. Ich kann mich daran erinnern, dass mir einmal im Commiskey Park in Chicago ein paar Kids, die ganz in meiner Nähe hinter dem Unterstand am ersten Mal saßen, zuriefen: »Hey, Kumpel, wie kommt’s, dass du da unten bist?« und »Hey, Kumpel, tuste mir ’n Gefallen und besorgst mir ’n Autogramm von Nellie Fox?« Es waren Großstadtkids. Sie sahen aus, als gehörten sie zur Dead End Gang. Aber ich beachtete sie nicht, denn ich war viel zu ... COOL.
Wie gesagt war ich ziemlich verzweifelt, als ich feststellen musste, dass die Twins tausend Meilen entfernt an der Ostküste waren und ich mir kein Spiel ansehen konnte. Mein Blick wanderte müßig über die Mannschaftsaufstellungen der Spiele vom Vortag, und es traf mich fast wie ein Schlag, als ich merkte, dass ich keinen einzigen Namen mehr kannte. Mir wurde klar, dass diese Spieler noch zur Junior Highschool gingen, als ich Amerika verließ. Wie sollte ich mir ein Baseballspiel ansehen, wenn ich keinen der Spieler kannte? Beim Baseball kommt es darauf an zu wissen, was vor sich geht, zu wissen, wer was in welcher Situation vermutlich tun wird. Wem wollte ich noch was weismachen? Ich war nun ein Ausländer.
Die Kellnerin kam an meinen Tisch und brachte eine Papierunterlage und Besteck. »Hi!«, rief sie aus voller Kehle. »And how are you doin’ today? « Es hörte sich an, als würde sie sich wirklich dafür interessieren. Vermutlich tat sie das auch. Was sind die Leute im Mittleren Westen doch für prachtvolle Menschen. Sie trug eine schmetterlingsförmige Brille und eine Bienenkorbfrisur.
»Mir geht’s sehr gut, danke«, sagte ich. »Wie geht’s Ihnen?«
Sie warf mir einen misstrauischen und dennoch freundlichen
Seitenblick zu und fragte: »Aus dieser Gegend sind Sie aber nicht, oder?«
Ich wusste nicht, was ich darauf
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