Stresstest Deutschland
Optimisten immer gern als vierte Gewalt im Staat bezeichnet werden. Ein Staatsgebilde ohne Gewaltentrennung ist allerdings keine Demokratie. Will man das Staatssystem der Bundesrepublik auf einen griffigen Nenner bringen, könnte man daher auch von einer Parteienherrschaft sprechen.
Wie konnte es passieren, dass eine vorbildliche Verfassung, wie es die deutsche ist, durch die Parteien derart ausgehöhlt werden konnte? Die Antwort auf diese Frage wird vielen nicht so sehr gefallen: Das Volk hat den Parteien die Macht auf dem Silbertablett dargeboten.
Die Bürger fühlen sich von den Parteien zwar nicht wirklich repräsentiert, machen allerdings auch keinerlei Anstalten, an diesem Zustand etwas zu ändern. Wenn ihnen alle paar Jahre wieder die einzige Möglichkeit geboten wird, Politik mitzugestalten, versagen sie auf ganzer Linie – entweder, sie nehmen diese Möglichkeit nicht wahr oder sie stimmen mit überwältigender Mehrheit für das politische System, das sie an anderer Stelle kritisieren. So unzufrieden kann das Volk demnach mit der Politik gar nicht sein. Aber vielleicht entspricht die Mehrheit der kritischen Beobachter auch ganz einfach nicht dem repräsentativen Durchschnitt, und es gibt so etwas wie die »schweigende Mehrheit«, die Richard Nixon einst immer dann in den Ring warf, wenn seine wertkonservative Politik von den liberalen Demonstranten auf der Straße kritisiert wurde. Hatte Nixon vielleicht recht? Gibt esauch in Deutschland eine »schweigende Mehrheit«, die gar nicht so unzufrieden mit der Politik ist, wie es kritische Betrachter ausgemacht haben wollen?
Eine Antwort auf diese Frage könnte auch das Orakel der Demoskopen nicht geben. Denn leider verschaffen die Sprüche dieses Orakels keine Klarheit, sondern bieten nur weiteren Diskussions- und Interpretationsspielraum. Zwar ist die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bei einigen Sachfragen, etwa Rente mit 67 oder Krieg in Afghanistan, anderer Meinung als die überwältigende Mehrheit der Parlamentarier, dennoch schlägt sich dieser Dissens nicht im politischen Stimmungsbild nieder. Nur jeder Zehnte der Befragten, die überhaupt wählen würden, erklärt bei Umfragen, seine Stimme auch der einzigen Partei zu geben, die bei den erwähnten Sachfragen mit der Mehrheit des Volkes übereinstimmt. Ähnlich sieht es beim Thema Mindestlohn aus. In diversen Umfragen erklärt die übergroße Mehrheit der Bevölkerung, dass sie einen Mindestlohn für richtig hält, bei der konkreten Wahlentscheidung spielt dieses Thema jedoch offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle, zumindest wählt sie nicht die Partei, die sich dafür einsetzt.
Dafür gibt es drei mögliche Erklärungen:
Die Themen, bei denen die Parteien nicht die Meinung ihrer Wähler vertreten, werden von den Wählern eher als unwichtig betrachtet. Die Wahl einer Partei ist immer die Einigung auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner. Wenn man beispielsweise zu 75 Prozent mit dem Parteiprogramm der CDU übereinstimmt, beim Thema Afghanistan allerdings anderer Meinung ist, muss dies kein Hindernis sein, diese Partei trotzdem zu wählen.
Parteien, mit denen man in bestimmten Bereichen übereinstimmt, scheinen durch andere Positionen oder aber die öffentliche Wahrnehmung unwählbar. So spielt es für die allermeisten Wahlberechtigten gar keine Rolle, welche Position beispielsweise die NPD zu bestimmten Themen hat, da diese Partei für sie ohnehin nicht wählbar ist.
Der Wähler ordnet sich dem Paternalismus des politischen Systems unter. Ein Kind würde schließlich auch nicht seine Eltern in Frage stellen, wenn sie sich bei der Wahl des nächsten Urlaubsortes nicht an seinen Wünschen orientieren. Um diesen Effekt zu verstärken, benutzt die Politik gern den Trick, gewisse Positionen als alternativlos darzustellen.
Wie systemverdrossen ist das Volk?
Die beliebte These, nach der die Deutschen politikverdrossen seien, lässt sich bereits mit dem Blick in jede x-beliebige Kneipe oder deren virtuelles Pendant, die sozialen Netzwerke im Internet, widerlegen. Es wird gejammert, diskutiert, debattiert und gestritten, dass die Fetzen fliegen. Neu ist jedoch, dass es nur sehr selten vorkommt, dass einer der Diskutanten sich offen auf die Seite einer Partei stellt. Der politische Diskurs ist lebhaft, er findet jedoch heute jenseits der Parteienpolitik statt. Die vielzitierte »Politikverdrossenheit« trifft also nicht den Kern des Problems.
Mit den Politikern, die als
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