Studio 6
die Lokalnachrichten des öffentlich-rechtlichen Senders dauerten während des Sommers nur fünf Minuten, das Privatfernsehen hatte bloß Talk-Shows und Kurznachrichten im Programm. Die Morgenzeitungen würden wahrscheinlich Bilder von den Pressebüros bringen und mit einem Agenturtext ergänzen.
Das
Echo
war nicht da und würde auch nicht kommen, das war ihr klar. Einer ihrer ehemaligen Kollegen vom
Katrineholms-Kurier
hatte ihr verächtlich erklärt, warum:
»Mord und Ähnliches überlassen wir der Boulevardpresse.
Wir sind keine Aasfresser.« Annika hatte damals schon gewusst, dass diese Worte mehr über den Kollegen als über das
Echo
sagten, aber manchmal geriet sie in Zweifel. Warum war das ausgelöschte Leben einer jungen Frau keine Berichterstattung wert? Sie verstand das nicht.
Die restlichen Leute an der Absperrung waren neugierige Passanten. Sie ging langsam vorbei und löste sich aus der Menschenansammlung. Die Polizisten, sowohl die Kripoleute als auch das technische Personal, waren innerhalb der Umzäunung beschäftigt. Bisher war weder ein Krankenwagen noch ein Leichenwagen eingetroffen.
Sie schaute auf die Uhr. Siebzehn nach eins. Es waren fünfundzwanzig Minuten vergangen, seit sie den Tipp durchs Idiotentelefon erhalten hatte. Sie wusste nicht so recht, was sie jetzt tun sollte. Es erschien ihr nicht sinnvoll, mit den Polizisten zu reden, die würden wahrscheinlich nur ausrasten. Ihr war klar, dass sie noch nicht viel wussten, weder, wer die Frau war, noch, wie sie gestorben war oder wer sie ermordet hatte.
Sie ging zum Drottningholmsvägen. Vor den Häusern auf der westlichen Seite der Kronobergsgatan hatte sich ein tortenstückgroßer Fleck Schatten gebildet. Sie ging hin und lehnte sich an die Fassade, die rau, grau und heiß war.
Die Temperatur lag nur wenig unter der in der Sonne, und die Luft brannte ihr im Hals. Sie war entsetzlich durstig und holte ihre Cola aus der Tasche. Der Verschluss war offenbar undicht gewesen, und die Flasche war jetzt außen klebrig, so dass sie mit den Fingern auf dem Etikett kleben blieb. Welch eine Hitze!
Sie trank das warme, abgestandene Getränk aus und versteckte die Flasche dann zwischen zwei Stapeln Altpapier, die im nächsten Hauseingang lagen.
Die Journalisten an der Absperrung waren jetzt auf die andere Seite der Straße gegangen. Wahrscheinlich warteten sie darauf, dass Bertil Strand mit dem Eis kam.
Aus irgendeinem Grund verursachte ihr die Situation Übelkeit. Etwa zehn Meter weiter schwirrten die Fliegen immer noch um die Leiche, während sich hier die Presse auf eine fröhliche Pause freute.
Sie ließ den Blick über den Park schweifen. Er bestand aus steilen, grasbewachsenen Hügeln und vielen großen Laubbäumen. Von ihrem Platz im Schatten aus konnte sie Linden, Buchen, Ulmen, Eschen und Birken unterscheiden. Einige waren riesig, andere neu gepflanzt. Zwischen den Gräbern wuchsen einige gigantische Bäume, vor allem Linden.
Ich brauche bald noch mehr zu trinken, dachte sie.
Sie setzte sich auf den Bürgersteig und lehnte den Kopf zurück. Es musste jetzt bald etwas passieren. Hier konnte sie nicht sitzen bleiben. Sie schaute zu der Gruppe von Journalisten hinüber, die langsam kleiner wurde. Die Frau von Radio Stockholm war gegangen, aber Bertil Strand war inzwischen mit dem Eis zurückgekommen. Berit Hamrin war nicht zu sehen, und Annika fragte sich, wohin sie wohl gegangen war.
Ich warte noch fünf Minuten, dachte sie, dann kaufe ich mir etwas zu trinken und versuche, einen der Nachbarn zu erwischen.
Sie versuchte, sich eine Karte von Stockholm vorzustellen und auszumachen, wo genau sie sich befand. Sie schaute an der Feuerwache im Süden vorbei. Dort lag die Hantverkargatan, die Straße, in der sie selbst wohnte. Im Grunde wohnte sie nicht mehr als zehn Häuserblocks von hier entfernt, im Hinterhaus eines zum Abriss vorgesehenen Hauses am Kungsholmstorg. Trotzdem war sie hier am Kronobergspark noch nie gewesen. Unter ihr lag die U-Bahn-Station Fridhemsplan, mit etwas Mühe konnte sie erahnen, wie die Züge unter ihr durchsausten und sich dabei ihre Vibrationen durch Beton und Asphalt fortsetzten. Geradeaus waren ein großer, kreisförmiger Belüftungsschacht vom Tunnel, ein Pissoir und eine Parkbank zu sehen. Vielleicht hatte dort der Penner, der das Idiotentelefon angerufen hatte, gesessen und sich im Sonnenlicht mit seinem Kumpel, der mal pinkeln musste, geräkelt. Warum benutzte sein Kumpel denn dann nicht das Pissoir, fragte
Weitere Kostenlose Bücher