Die Zwölf Türme (German Edition)
"Gefällt Ihnen das Bild, mein Herr?"
Charles Garrett war so sehr in die Betrachtung des vor ihm hängenden Gemäldes vertieft, dass er regelrecht zusammenzuckte, als er so unerwartet angesprochen wurde. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sich der weißhaarige Besitzer der kleinen Galerie neben ihn gestellt hatte.
"Verzeihen Sie mir, dass ich Sie so einfach anspreche", sagte der Alte, "Eigentlich ist das nicht meine Art. Aber ich beobachte Sie jetzt schon eine ganze Weile. Sie stehen jetzt bereits fast eine volle Stunde nur vor diesem Bild und das erscheint mir ungewöhnlich, weil nur sehr wenige Besucher dieses Gemälde überhaupt beachten."
"Wer hat es denn gemalt?"
"Eine junge, unbekannte Künstlerin", antwortete der Alte leise, "Sie malte es in einer einzigen Nacht. Am Morgen danach beging sie Selbstmord."
"Das Bild einer Selbstmörderin?" fragte Charles erstaunt und betroffen zugleich, weil ihn das an sein eigenes Vorhaben erinnerte.
Und nun stand er ausgerechnet vor DIESEM Bild!! War das noch Zufall?
"Ja, das Bild einer Selbstmörderin", meinte der Alte, "Sie hieß Jennifer McLohan; ich habe sie flüchtig gekannt. Jennifer war ein liebenswertes, aber wohl auch sehr einsames Mädchen. Vielleicht hat sie Letzteres nicht mehr ertragen. Statt eines Abschiedsbriefes malte sie dieses Bild hier, um ihre Gefühle auf diese Weise auszudrücken. Es gibt wohl auch keine Sprache, die so viel Einsamkeit, Schmerz und Traurigkeit ausdrücken kann wie dieses Bild."
"Ja", meinte Charles leise und sehr nachdenklich, "es ist wirklich sehr traurig, dieses Bild."
"Ach, verzeihen Sie, dass ich mich Ihnen noch nicht vorgestellt habe", meinte der Alte mit entschuldigendem Lächeln, "Mein Name ist Fitzgerald Norton. Wie Sie sicher schon bemerkt haben, bin ich der Besitzer dieser bescheidenen Galerie."
"Ich bin erfreut, Sie kennen zu lernen", antwortete Charles höflich, "Ich heiße Charles Garrett."
"Wissen Sie, Mister Garrett, ich frage mich, was Sie an diesem Bild so fasziniert, dass Sie es so lange und so eingehend betrachten. Kaum jemand interessiert sich für dieses Bild, nur ganz wenige Leute bleiben länger als einen kurzen Augenblick davor stehen. Und in der Regel sind das Menschen, die sehr einsam sind. Vielleicht liegt es daran, dass sie in diesem Bild eine Art Seelenverwandtschaft erkennen, zu der sie sich hingezogen fühlen. Auch bei Ihnen, Mister Garrett, habe ich das untrüglich Gefühl, dass Sie einer von dieser Sorte Mensch sind."
Charles wurde es unheimlich zumute und er fühlte sich plötzlich äußerst unbehaglich. Ihm kam es vor, als würde der Alte ihm bis auf den Grund seiner Seele schauen. Wusste der etwa, was mit ihm los war?
Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit....
"Es tut mir Leid, Mister Garrett; Ihre Frau ist vor ein paar Minuten gestorben. Wir konnten nichts mehr für sie tun."
Mehr hatte der Mann im weißen Kittel nicht gesagt.
Charles war wie erschlagen gewesen, als er die Worte des Arztes hörte, die sich wie ein glühendes Brandeisen in sein Gehirn einbrannten. Wie ein zäher, dunkler Sirup war ihre schreckliche Bedeutung in sein Bewusstsein eingedrungen, aber er hatte es einfach nicht begreifen wollen.
Wortlos und wie betäubt war er gegangen, unfähig zu weinen. Er konnte es nicht verstehen, wollte es einfach nicht akzeptieren. Gott, warum? Warum gerade sie?
So hatten seine Gedanken immer und immer wieder geschrien und schließlich hatte er selbst Gott verflucht.
Tage hatte er gebraucht, um zu begreifen, was geschehen war.
Seine von ihm fast abgöttisch geliebte Frau, gerade erst ein Jahr mit ihm verheiratet, war von einem Auto überfahren worden und noch auf dem Wege ins Krankenhaus gestorben.
Er hatte nicht einmal mehr Abschied nehmen können.
Irgendetwas war damals in ihm zerbrochen und hatte nur noch eine schreckliche Leere zurückgelassen. Sie war tot und er war allein - schrecklich allein. Welchen Sinn hatte das Leben jetzt denn noch für ihn? WOFÜR sollte er jetzt noch leben?
Damals hatte er seelisch am Abgrund gestanden, kurz vor dem völligen Zusammenbruch. Und er hatte seinen Lebenswillen verloren. Nur einem guten Freund hatte er es zu verdanken, dass er sich nicht schon damals umgebracht hatte. Jener Freund, der ihn sehr gut gekannt hatte, sagte ihm damals, dass Selbstmord nichts anderes sei als die würdelose Flucht eines erbärmlichen Feiglings. Das hatte seinen Stolz und sein Ehrgefühl getroffen und ihn von diesem
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