Stunde der Vergeltung (German Edition)
1
Finden Sie die Schwachstelle. Dann nutzen Sie sie aus .
Die grausam schlichte Anweisung hallte durch Vals Kopf, bis sie nur noch ein bedeutungsloses Störgeräusch war. Er verdrängte das weiße Rauschen in seinen Hinterkopf und spielte das Material ab, das er an diesem Tag aufgezeichnet hatte.
Zum zwanzigsten Mal beobachtete er, wie die Frau das strampelnde Kleinkind aus dem Geländewagen hob und mit ihm hinunter zu dem am Flussufer gelegenen Spielplatz im Park spazierte. Val hatte alles abgespeichert: die Schaukeln, die Rutsche, das Karussell, das Klettergerüst. Es folgte ein Ritt auf den Schultern der Frau zwischen den Bäumen hindurch. Dann der Moment, in dem sie das Kind hochhob, damit es mit seinen Patschhänden an die braunen Blätter an den Ästen über ihr gelangen konnte. Er hatte sich jedes Nicken, jedes Lächeln, jede Umarmung eingeprägt.
Die Jeans, die Wanderstiefel, die unförmige Jacke konnten die katzenhafte Anmut ihres schlanken Körpers nicht verbergen. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu einem lockeren, breiten Zopf geflochten. Sie hatte kein Make-up aufgelegt. Kichernd reckte sich das kleine Mädchen höher, um die Blätter zu erwischen.
Kinder waren immer eine Schwachstelle – auch wenn Val sich nie überwinden konnte, diese auszuschlachten. Er hasste es, wenn ein Kind involviert war. Es machte ihn angespannt, nervös und ruinierte die hart erkämpfte professionelle Ruhe, die ihn normalerweise zu einem überaus fähigen Agenten machte. Hätte er von der Existenz des Kindes gewusst, er hätte den Auftrag abgelehnt, da hätte Hegel toben und drohen können, soviel er wollte. Das Schlimmste, was sie ihm antun könnten, wäre, ihn zu töten. Sollten sie es doch versuchen. Sie wären nicht die Ersten. Eines Tages würde es jemandem gelingen. Wer der Täter war, wäre nach Vals Tod vollkommen irrelevant.
Der Auftrag hatte unkompliziert geklungen, als Hegel ihn angeboten hatte. Spüren Sie das Versteck dieser Frau auf – eine von Vals Spezialitäten, denn er war ein gewiefter Hacker und ein raffinierter Manipulator. Schaffen Sie sie zu Georg Luksch, freiwillig, wenn möglich, notfalls unter Vortäuschung falscher Tatsachen. Jedes Mittel ist recht. Auch Nötigung oder Kidnapping.
Es gefiel ihm nicht, für Luksch zu arbeiten oder in irgendeiner Weise mit der Mafia zu tun zu haben. Zu viel war vorgefallen, und es gab zu viele hässliche Erinnerungen. Aber Hegel hatte den Vorgesetzten rausgekehrt und sich durchgesetzt. Und Val hatte sich eingeredet, dass er cool bleiben und den Auftrag einfach hinter sich bringen könnte. Ein fataler Irrtum.
Als Erstes hatte er den besten Quellen für falsche Identitäten auf den Zahn gefühlt. Mithilfe einer umsichtigen Kombination aus Drohungen und Bestechungen war er in den Besitz einer Liste von Ausweisen gelangt, die Steele für sich und ihre Tochter besorgt hatte. Durch mehrere Telefonate sowie eine diskrete Infiltration der Datenbanken von Homeland Security hatte er sichergestellt, dass Steele niemals in der Lage sein würde, mit einem dieser gefälschten Dokumente zu reisen. Mittlerweile wünschte er sich, nicht derart effektiv gewesen zu sein.
Val wollte, dass sie entkam. Sehr unprofessionell von ihm.
Im Zimmer war es kalt, außerdem wurde es wegen der frühen Dämmerung jetzt im Januar zunehmend dunkler. Val trug nichts am Leib als eine weite Jogginghose, trotzdem verharrte er in meditativer Haltung vor dem Computermonitor, während er vergeblich versuchte, seinen Geist zu beruhigen, um seine persönliche Technik zur Informationsverarbeitung anwenden zu können.
Sie basierte auf der Methode, mit der Imre ihn vor vielen Jahren, als Val noch ein Junge gewesen war, das Schachspielen gelehrt hatte. Sie wirkte täuschend einfach, setzte jedoch höchste Konzentration voraus.
Er gab die Informationen, ganz gleich wie irrelevant oder oberflächlich, in ein schwebendes Konstrukt in seinem Verstand ein, das Imre »die Matrix« getauft hatte, und hielt sie dort in einer transparenten Form fest, die er drehen, von innen nach außen kehren, zerlegen, wieder zusammenfügen und von allen Seiten beleuchten konnte. Dann löste er sich von ihr, driftete ein Stück weg und betrachtete sie in aller Ruhe.
Geh drei Schritte zurück und atme tief durch , hatte Imre ihn angewiesen.
Der Abstand war das Schlüsselelement. Val ließ seinen Geist offen, beweglich und aufnahmebereit, um Raum zu lassen für beginnende Einsichten, Lösungsansätze und Erkenntnisse.
Heute
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