Sturm ueber Cleybourne Castle
schüttelte Gabriela den Kopf. „Ich kann es einfach nicht glauben, dass Großonkel alles gewusst haben soll und trotzdem nie ein Wort darüber gesagt hat." „Ich fürchte allerdings, er hat es tatsächlich getan. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, aus welchem Grund", erwiderte Richard.
„Ich weiß, warum", flüsterte Jessica. „Weil er Kestwicks Mutter über alles geliebt hat."
Sie entfaltete den zweiten, von General Streathern an sie gerichteten Brief und begann zu lesen:
„ Liebe Jessica,
ich zweifle nicht daran, dass Du jetzt nur noch mit Hass an mich denkst, und Du hast auch allen Grund dafür. Ich habe nicht nur dieses Geheimnis all die Jahre bewahrt, sondern ich habe auch Deinen Vater in den Tod geschickt. Glaube mir bitte, wenn ich Dir sage, dass dies nie meine Absicht gewesen ist. Wenn ich geahnt hätte, wer der Verräter ist, hätte ich niemals diese Nachforschungen in Gang gesetzt. Thomas Maitland war der beste und anständigste Mann, der je unter meinem Kommando gedient hat, und ich vertraute ihm uneingeschränkt. Als es galt herauszufinden, wer Bonaparte geheime Mitteilungen zukommen ließ, wusste ich keinen Besseren für diese Aufgabe als ihn. Aus diesem Grund haben wir ihn nach außen hin in Unehren aus der Armee entlassen, damit er eine Möglichkeit bekam, in die Gruppe der Verräter einzudringen. Seine Arbeit war erfolgreich, wie Du aus dem bewussten Dokument ersehen kannst. Er entdeckte den Verräter. Seinen Brief erhielt ich kurz nach seinem Tod.
Ich habe Dir, liebe Jessica, einmal erzählt, dass Lady Kestwick, die Mutter des entlarvten Verräters, die große Liebe meines Lebens gewesen ist. Deshalb war ich, als ich den Brief Deines Vaters erhielt und erfuhr, dass er bei einem Streit in einem Gasthof ums Leben gekommen war, zutiefst erschüttert. Tagelang habe ich mit mir gerungen. Aber ich brachte es einfach nicht fertig, die Frau, die ich über alles liebte, zu einem Leben als Mutter eines verurteilten Hochverräters zu verdammen. So wandte ich mich an Lord Kestwick und zeigte ihm das Dokument. Zusammen gingen wir zu seinem Sohn und setzten durch, dass er seine verräterischen Aktivitäten bei Strafe der Enthüllung sofort aufgab. Lord Kestwick zog danach die Konsequenzen und trat von seinem Posten in der Regierung zurück.
Ich weiß, dass Du meine Handlungsweise verurteilen wirst, die Deinen Vater das Leben kostete und Dich zwang, zehn Jahre lang mit dem Makel eines Familienskandals zu leben. Was ich in dieser Zeit für Dich getan habe und was Du als
Menschenfreundlichkeit betrachtet hast, war nichts weiter als ein armseliger Versuch, den Schaden gutzumachen, den ich Deinem Vater und Dir angetan habe. Es bereitete mir schweren Kummer, mit ansehen zu müssen, wie Du Dir Deinen Weg im Leben erkämpfen musstest, und jeder Dank, den ich von Dir erhielt, war Salz in meine Wunde. Aber ich konnte Dir nicht die Augen öffnen und Deinen Hass auf mich ziehen. So habe ich den Weg eines Feiglings gewählt, der ich in Deinen Augen wohl auch bin. Ich hinterlasse Dir die Dokumente, die beweisen, dass Dein Vater zu Unrecht beschuldigt wurde und der wahre Verräter der jetzige Lord Kestwick ist. Es wird nun meinen Namen ruinieren, aber das ist nicht mehr, als ich verdiene.
Ich bitte Dich, mir zu vergeben, und bete, dass Du Dich eines Tages auch wieder an die Liebe erinnern wirst, die ich immer für Dich empfunden habe. Du bist für mich wie eine Enkeltochter gewesen."
„Wie konnte Großonkel nur so etwas tun?" jammerte Gabriela. „Das war doch schrecklich grausam." Ängstlich blickte sie auf Jessica. „Sie müssen mich jetzt auch hassen."
„Nein! Natürlich hasse ich dich nicht. Du darfst so etwas nicht denken. Ich habe dich sehr lieb. Was immer dein Großonkel getan hat, berührt unser Verhältnis überhaupt nicht." Zärtlich zog Jessica das Mädchen an sich. „Und wenn es mich auch sehr betrübt, dass der General den Schatten vom Namen meines Vaters nicht entfernt hat, so bringe ich es dennoch nicht fertig, ihn deswegen zu hassen. Ich weiß nur zu genau, was man aus Liebe zu tun bereit ist, selbst wenn es Unrecht ist."
Sie warf bei diesen Worten einen Blick auf Richard und erinnerte sich daran, dass ihre Liebe und ihr Verlangen so groß gewesen waren, dass sie sogar ein Leben in Sünde mit ihm geführt hätte.
Neugierig hatte Gabriela ihren Blick verfolgt, sodass Jessica nun lächelnd hinzufügte: „Möchtest du nun vielleicht gern etwas erfahren, das noch kein anderer Mensch
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