Sturm über Hatton Manor
nicht.”
Bevor sie protestieren konnte, war er verschwunden, und sie war mit Nash allein.
“Was ist los?”, fragte Nash schroff. “Oder soll ich raten? Es ist sicher nicht einfach, mit Schuldgefühlen zu leben – obwohl es dir offenbar nicht schwerfällt und du jemand anderen fürs Bett gefunden zu haben scheinst. Allerdings hast du noch nie besonders stark ausgeprägte Moralvorstellungen gehabt, nicht, Faith?”
Faith wusste nicht, was stärker war – ihre Angst oder ihr Schmerz. Instinktiv wollte sie sich verteidigen und seine hasserfüllten Vorwürfe zurückweisen, doch sie wusste aus Erfahrung, wie wenig Sinn es hätte. “Es gibt nichts, dessen ich mich schuldig fühlen müsste”, brachte sie schließlich mit bebender Stimme hervor.
Sofort wusste sie, dass sie das Falsche gesagt hatte, denn er bedachte sie mit einem vernichtenden Blick.
“Davon hättest du vielleicht einen Jugendrichter überzeugen können, Faith, aber mich kannst du nicht so leicht hintergehen. Und es heißt ja, dass ein Krimineller – ein Mörder – immer an den Ort seines Verbrechens zurückkehrt, stimmt’s?”
Faith war so entsetzt, dass sie scharf einatmete und ihre Kopfhaut vor Angst zu prickeln begann. Als sie das erste Mal nach Hatton gekommen war, hatte Nash sie wegen ihres dichten honigblonden Haars aufgezogen, indem er behauptete, es wäre gefärbt. Als sie den Sommer hier verbrachte, hatte er seinen Irrtum eingesehen. Ihre Haarfarbe hatte sie genau wie die strahlend blauen Augen von ihrem dänischen Vater geerbt, den sie nie kennengelernt hatte. Er war in den Flitterwochen ertrunken, weil er versucht hatte, einem kleinen Kind das Leben zu retten.
Sobald sie alt genug gewesen war, um über solche Dinge nachzudenken, war sie zu der Überzeugung gelangt, dass die Herzkrankheit, an der ihre Mutter schließlich gestorben war, psychosomatisch gewesen war, verursacht durch den Kummer über den frühen Verlust ihres Mannes. Natürlich wusste sie, dass solche Zusammenhänge nicht wissenschaftlich erwiesen waren, aber wie sie aus bitterer Erfahrung wusste, ließen viele Dinge im Leben sich nicht logisch oder wissenschaftlich erklären.
“Was machst du hier?”, fragte sie Nash bitter. Egal, was er glaubte, sie war nicht … sie
hatte
nicht …
Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf, während sie wieder einen klaren Kopf zu bekommen versuchte. Und obwohl sie sich abweisend gab, wurde sie bereits von den Erinnerungen gequält. Hier, in diesem Raum, war sie Philip Hatton, seinem Patenonkel, zum ersten Mal begegnet, und hier hatte sie ihn auch zum letzten Mal gesehen, als er zusammengesunken in seinem Sessel lag, halbseitig gelähmt durch den Schlaganfall, der schließlich auch zu seinem Tod geführt hatte.
Faith zuckte zusammen, als das Entsetzen, das mit diesen Erinnerungen verbunden war, sie zu überwältigen drohte …
“Du hast gehört, was dein Boss gesagt hat.”
Nun erstarrte sie, weil Nash das Wort Boss herausfordernd betonte. Sie hatte sich zwar so weit unter Kontrolle, dass sie darauf nichts erwiderte, gegen die instinktive und verräterische Reaktion ihres Körpers hingegen war sie machtlos. Ihre Augen wurden dunkler und nahmen einen gequälten Ausdruck an.
Mit fünfzehn war ein Mädchen noch zu jung, um zu wissen, was wahre Liebe bedeutete, oder nicht? Diese Gefühle konnten nicht mehr sein als Schwärmerei, die man später, wenn man älter war, nur noch belächelte.
“Als Treuhänder des Anwesens meines verstorbenen Patenonkels habe ich mich entschieden, Hatton House der Ferndown-Stiftung zu stiften. Schließlich weiß ich, wie gut einem Kind so eine Umgebung tut.”
Nash runzelte die Stirn und wandte dabei den Blick ab. Der wütende Ausdruck in seinen Augen wich einer gewissen Unsicherheit.
Er hatte geglaubt, er wäre auf diesen Moment, diese Begegnung vorbereitet und hätte sich unter Kontrolle. Aber es war ein Schock für ihn, das fünfzehnjährige Mädchen von damals, an das er sich so lebhaft erinnerte, als erwachsene Frau wiederzusehen – eine Frau, die Robert Ferndown und vermutlich viele andere gutgläubige Narren offensichtlich bewunderten und begehrten. Es weckte ein Gefühl in ihm, das den Schutzwall, den er um sich errichtet hatte und den er für undurchdringlich hielt, ernsthaft gefährdete.
Sich eingestehen zu müssen, dass er ausnahmsweise verunsichert war, machte ihn wütend und riss alte Wunden wieder auf, von denen er angenommen hatte, sie wären längst verheilt. Er wusste, dass er
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