Sturm über Hatton Manor
sein.
Aber natürlich war es unmöglich. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, und sie hatte stumm ins Kissen geweint. In den vergangenen sechs Monaten war sie erwachsen geworden, und ihr war klar, dass ihre Mutter Hatton House niemals sehen würde.
Nervös trat Faith vom Fenster zurück. Das Zimmer hatte sich kaum verändert. Das Bett sah noch genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte, lediglich der Bezug und die Gardinen waren anders. Sogar die verblichene, altmodische Tapete mit dem Rosenmuster war noch dieselbe. Faith streckte die Hand aus und berührte vorsichtig eine der Rosen.
Ihr Zimmer in der kleinen Wohnung, die ihre Mutter und sie von der Wohnungsbaugesellschaft gemietet hatten, hatte eine hübsche Tapete gehabt. Ihre Mutter und sie hatten es kurz nach ihrem Einzug selbst tapeziert. Ihrer Mutter hatte es fast das Herz gebrochen, aus dem kleinen Cottage auszuziehen, in dem sie seit ihrer Geburt gelebt hatten. Doch sie hatte sich nicht mehr um den Garten kümmern können, und außerdem lag die Wohnung viel dichter am Krankenhaus und an ihrer Schule.
Es war fast beängstigend, wie stark ein Ereignis das Leben eines Menschen verändern konnte, wie Faith sich eingestehen musste, als sie an ihre Vergangenheit dachte. Es war reiner Zufall gewesen, dass sie überhaupt nach Hatton gekommen war.
Kurz nach dem Umzug in ihre Wohnung erklärte der Arzt ihrer Mutter, sie müsste sich einer größeren Operation unterziehen und danach eine mehrmonatige Kur machen. Zuerst weigerte ihre Mutter sich kategorisch und erklärte, sie könne ihre fünfzehnjährige Tochter unmöglich so lange allein lassen. Daraufhin schlug der Arzt vor, dass das Jugendamt sie, Faith, solange in dem Kinderheim im Ort unterbringen sollte.
Zuerst weigerte ihre Mutter sich, es überhaupt in Betracht zu ziehen, aber Faith hatte selbst miterlebt, wie schnell sich ihr Gesundheitszustand verschlechterte. Trotz ihrer großen Angst versicherte sie ihr daher, es sei für sie überhaupt kein Problem.
“Es ist doch nur für eine Weile”, versuchte sie, sie zu beruhigen. “Außerdem fällt es größtenteils mit den Sommerferien zusammen. Es wird bestimmt lustig, wenn ich andere Mädchen kennenlerne, mit denen ich mich unterhalten kann …”
Und so hatten sie sich darauf geeinigt. In letzter Minute allerdings, am selben Tag, an dem ihre Mutter ins Krankenhaus musste, hatte das Jugendamt entschieden, dass sie nicht in dem Kinderheim im Ort untergebracht werden sollte, sondern in einem, das fast fünfzig Meilen entfernt war.
Faith erinnerte sich noch immer sehr gut daran, wie ängstlich sie gewesen war, aber ihre Sorge um ihre Mutter war größer gewesen. Am schlimmsten war für sie zu erfahren, dass sie ihre Mutter nicht besuchen durfte, weder nach der Operation noch während ihrer Genesung.
Die Betreuer in dem Kinderheim waren zwar sehr nett zu ihr, doch sie fühlte sich einsam, zumal eine Clique von Mädchen, die schon länger dort lebte, ihr ziemlich feindselig begegnete. Sie durfte ihre Mutter nach der Operation anrufen, erzählte ihr allerdings nicht davon, dass diese sie schikanierten und erpressten. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihre Mutter sich Sorgen um sie machte.
Eine Woche nach ihrer Ankunft in dem Heim erfuhr sie zu ihrer großen Begeisterung, dass ein Ausflug zu einem nahe gelegenen Herrenhaus aus der Zeit Eduards VII. geplant war. Ihr Vater war Architekt gewesen, und sie träumte schon seit einiger Zeit davon, einmal in seine Fußstapfen zu treten. Da ihre Mutter aber nur über ein geringes Einkommen verfügte, war Faith klar, dass sie vermutlich nicht würde studieren können.
Ihre Freude wurde ein wenig getrübt, als sich herausstellte, dass jene Mädchen auch mit von der Partie waren. Außerdem überraschte es sie, weil diese keinen Hehl daraus machten, wie
sie
ihre Zeit am liebsten verbrachten. Ihre Mutter wäre entsetzt gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass die Mädchen ganz offen mit ihren kriminellen Aktivitäten prahlten. Eins der anderen Mädchen hatte ihr sogar hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass die Clique oft in den Ort ging und dort in verschiedenen Geschäften stahl.
“Sie würden mich umbringen, wenn sie es erfahren. Außerdem sagt Charlene, dass sie sowieso nur vors Jugendgericht kommen, wenn sie erwischt werden.”
“
Nur!”
Faith konnte ihr Entsetzen nicht verbergen, aber das andere Mädchen zuckte lediglich die Schultern.
“Charlenes Bruder sitzt schon in einer Jugendstrafanstalt in
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