Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
|9| VORWORT
Es ist tiefer Winter. Mein Allrad hat es gerade noch bis zur Einfahrt unten an der Straße geschafft. Für den Rest des Weges muss ich die Schneeschuhe anschnallen. »Der Schlüssel liegt unter der Fußmatte«, hatte mir der Vermieter der kleinen Blockhütte in den Bergen von Montana am Telefon gesagt. Alles war vorbereitet, sogar das Feuer im Ofen. Ich musste nur noch ein Streichholz daran halten, schon wurde es gemütlich warm. Ein Stapel Holzscheite sorgte dafür, dass mir nicht kalt werden würde.
Die Cabin ist einfach eingerichtet, aber urgemütlich. Eine bequeme Couch, ein Tisch, den ich ans Fenster rücke. In der kleinen Küche habe ich mir gerade einen Kaffee gemacht. Das große Bett steht an der Wand. Als ich heute Nacht unter den weichen Decken wach geworden war und mit der Hand über die Rundstämme strich, fühlten sie sich warm und lebendig an. Eine Tür führt ins Mini-Badezimmer. Es gibt Strom, fließendes Wasser und ausreichend Feuerholz draußen im Schuppen. Sogar einen alten Kassettenrekorder entdecke ich und ein Tape von John Denver, das ich jetzt einlege. Während ich mich mit dem Kaffee an den Holztisch setze, beobachte ich die muntere Vogelschar, die sich am kleinen Vogelhäuschen auf der Veranda tummelt. Der fürsorgliche Hausherr hat genügend Vogelfutter dagelassen. Draußen liegt tief verschneit der Wald, weiter unten ein See.
Vor mir auf dem Tisch warten zweihundertsiebzig Manuskriptseiten auf die Überarbeitung. Die kleine Cabin soll mir genug Ruhe und Inspiration dafür geben. Als ich darüber nachdenke, wie sich das Buch entwickelt hat, muss ich schmunzeln. Eigentlich wollte ich ein wissenschaftliches Fachbuch schreiben |10| über das Verhalten von Wölfen. Noch ein Fachbuch. Der Stoff, den uns das Verhalten dieser faszinierenden Tierart bietet, geht nie aus. Aber irgendwie entwickelte sich das Fachbuch immer mehr zu meiner persönlichen Geschichte.
Bei jedem Vortrag, jeder Lesung, die ich halte, gibt es Zuhörer, die fragen: »Warum Wölfe?« oder »Wie sind Sie auf Wölfe gekommen?«
Ich wundere mich über die Fragen, denn für mich ist das Leben mit den Wölfen und meine Leidenschaft für sie die natürlichste Sache der Welt. Aber dann wird mir bewusst, dass viele Menschen auch einen Traum haben, so wie ich einst. Mit dem Unterschied, dass es mir inzwischen vergönnt ist, diesen Traum zu leben.
Ich bin keine Biologin, sondern Autorin mit Schwerpunkt Wolf und Hund. Um meinen Traum vom Leben mit den Wölfen zu verwirklichen, gab ich mein früheres Leben auf. Dass diese Entscheidung richtig war, wusste ich in dem Augenblick, als ich zum ersten Mal einem wilden Wolf gegenüberstand und seine Augen in meine Seele zu blicken schienen.
Ich habe das große Glück, seit fast zwanzig Jahren wilde Wölfe in ihrem natürlichen Umfeld beobachten zu können. Sie lassen mich teilhaben an ihrem Leben – an der Jagd, der Paarung und der Aufzucht ihrer Jungen. Das empfinde ich als unbeschreibliches Geschenk, für das ich jeden Moment dankbar bin.
Während ich meinen Kaffee trinke und noch einmal das Manuskript lese, lenkt mich eine Bewegung unten am See ab. Vier Wölfe sind aufgetaucht. Einer von ihnen schaut hoch zur Cabin. Er sieht mich nicht am Fenster – oder doch?
Das warme Gefühl, das sich in mir ausbreitet, hat nicht allein mit dem Feuer im Ofen zu tun. Ich bin nur eine Beobachterin in der Welt der Wölfe; dringe nicht ein und dränge mich nicht auf. Ich sehe ihnen zu und erzähle dabei meine Geschichte und die Geschichte der Wölfe, die ich ein Stück ihres Lebens begleiten durfte.
Unten auf dem Eis tollen die Wölfe umher. Sie springen |11| übereinander, rutschen aus, lecken sich gegenseitig die Gesichter und sind viel zu schnell wieder im Wald verschwunden.
Ich denke zurück an die vielen Wolfsbegegnungen, die ich hatte. Das komplexe soziale Verhalten dieser Tiere über einen längeren Zeitraum zu beobachten veränderte meine Gedanken und Gefühle. Begriffe wie Moral, Verantwortung und Liebe erhielten einen neuen Sinn für mich. Die Wölfe wurden meine Vertrauten, meine Lehrer und Quelle meiner Inspiration. Dank ihnen vermag ich den Zauber wahrzunehmen, der die Elemente der Natur zusammenhält. Sie haben mich gelehrt, die Welt mit anderen – ihren – Augen zu sehen. Und sie haben mir geholfen, zu verstehen, wer ich bin und wo mein Platz in dieser Welt ist.
Februar 2011
|13| AUFGELÖST
Der schlanke Körper hing über dem Zaun. Das graue Fell wehte im Wind wie
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