Sturm und Drang
geschwächt sind, um laufen zu können. Wenn jetzt ein Alligator auftaucht, werfe ich ihm die beiden als Fraß vor und flüchte.
Es kommt mir vor, als wären Stunden vergangen, bis Lisutaris endlich einen Laut von sich gibt. Sie stöhnt und kommt zu sich.
»Was ist los?«
»Ihr wurdet von einem Verwirrungszauber getroffen, und die Orks haben die Stadt eingenommen. Wir fliehen durch den Abwasserkanal.«
»Wir müssen kämpfen!«, krächzt Lisutaris.
»Dafür ist es zu spät.«
»Wir dürfen nicht einfach weglaufen!«
»Könnt Ihr Euch an irgendwelche Zaubersprüche erinnern?«
Lisutaris sieht mich verständnislos an.
»Zaubersprüche?«
»Diese hübschen Sprüche, mit denen man zaubert.«
»Oh. Ja. Zaubersprüche. Nein.«
»Dann gehen wir besser weiter. Wir sind nicht mehr weit von dem Auslass des Kanals am Ufer entfernt. Wenn wir Glück haben, kommen wir weit genug von den Orks entfernt heraus. Ich erwarte nicht, dass sie heute Abend die Küste absuchen.«
Da Lisutaris wieder bei Bewusstsein ist, kommen wir schneller voran. Ich werfe mir Makri über die Schulter. Obwohl sie bewusstlos zu sein scheint, hält sie den Beutel mit ihren beiden Schwertern und ihrer Axt krampfhaft fest. Wenigstens verlässt sie die Stadt nicht mit leeren Händen.
Als wir den Kanalauslass am Ufer erreichen, erschüttern Explosionen und helle Blitze den Strand. Einige Zauberer am Hafen leisten Widerstand, und in ihrem Schutz laufen die letzten Schiffe aus. Auf ihnen drängen sich die Flüchtlinge. Diejenigen, die keinen Platz auf einem Schiff gefunden haben, strömen über die Felsen zum Strand und fliehen durch die Winternacht in alle möglichen Richtungen. Feuer und Rauch hängen über der Stadt, obwohl es keine Feuersbrunst zu geben scheint. Vermutlich wollen die Orks Turai nicht niederbrennen. Sie brauchen einen Stützpunkt, um überwintern zu können.
Wir sind zu weit vom Hafen entfernt, um ein Schiff erreichen zu können. Also bleibt uns keine andere Möglichkeit, als zu laufen.
»Das ist nicht gut«, keucht Lisutaris. »Ich bin zu schwach.«
Die Nachwirkungen des Fiebers und Deeziz’ Zauberspruch haben der Herrin des Himmels die letzten Kräfte geraubt.
Makri kommt zu sich und gleitet von meiner Schulter.
»Da draußen treibt ein leeres Boot«, sagt sie.
Ich kann kein Boot sehen. Lisutaris auch nicht.
»Ich sehe es«, behauptet Makri. »Ich habe Elfenaugen.«
Sie sieht mich an.
»Ich habe das Fieber«, erklärt sie unglücklich.
»Du wirst dich erholen«, beruhige ich sie. »Lisutaris, könnt Ihr das Boot an Land holen?«
Die Zauberin schüttelt den Kopf.
»Ich kann mich an keinen Zauberspruch erinnern.«
Ich ziehe mein veraltetes Buch mit Zaubersprüchen aus dem Beutel. Die meisten Formeln darin könnte ich niemals anwenden, und die, die ich beherrsche, nützen unter den gegebenen Umständen nicht viel. Vielleicht kann ja die Oberhexenmeisterin der Zaubererinnung etwas damit anfangen. Ich halte ihr das Buch hin. Lisutaris sieht es hoffnungslos an.
»Ich kann es nicht lesen.«
Ich explodiere vor Wut.
»Würdet Ihr Euch vielleicht wenigstens mal anstrengen? Ich habe Euch gerade aus der Rächenden Axt an den Strand gezerrt und Euch dabei durch einen Abwasserkanal geschleppt. Dann könnt Ihr ja wohl wenigstens versuchen, Euch an einen einfachen Zauberspruch zu erinnern. Hier!«
Ich ziehe etwas Thazis aus meinem Beutel. Es ist noch grün und frisch. Lisutaris’ Augen leuchten, und sie dreht sich sehr geschickt eine Rolle. Ohne nachzudenken, spricht sie ein Machtwort und entzündet die Rolle. Sie inhaliert tief den Rauch.
»Na klar«, sagt sie nach einem Moment. »Ich bin Oberhexenmeisterin. Ich zaubere. Gib das Buch noch mal her.«
Die Herrin des Himmels blättert die Seiten um, während ich ihr mit meinem Leuchtstab Licht spende. Aber ich dämpfe es etwas, weil ich keine Aufmerksamkeit erregen will. Man kann nie wissen, ob ein Drache nicht plötzlich seine Treffsicherheit beim Feuerspeien an ein paar hilflosen Überlebenden auf dem Strand ausprobieren möchte.
Lisutaris klappt das Buch zu und spricht einen kleinen Zauber, den Bringbann.
»Das Boot kommt.«
»Wurde auch Zeit. Denn da hinten kommt auch ein Drache.«
Der Drache schlägt gemächlich mit seinen mächtigen Schwingen, segelt über die Mauern der Stadt und nähert sich uns. Ein kleines Boot taucht auf. Es ist ein Fischerboot mit einem Segel. Ich werfe mir Makri wieder über die Schultern und wate durch das Wasser zu dem Boot, hebe sie über
Weitere Kostenlose Bücher