Stürmische Eroberung
1. Kapitel
Im Mai des Jahres 1660
"Prudence! Prudence! Herrje, wo steckt denn das Mädchen?"
Arabella hastete auf ihrer Suche durch den schmalen Korridor in die Küche und eilte schließlich in den kleinen Garten im Innenhof. Hier endlich fand sie die Gesuchte, die sich gerade liebevoll und mit einem selbstvergessenen Lächeln auf den Lippen um zahlreiche Kübelpflanzen kümmerte. Das üppige Blattwerk einer Ulme, die in einer Ecke des Hofes stand, spendete ihr beim Unkrautzupfen willkommenen Schatten.
"Prudence! Warum antwortest du mir denn nicht, wenn ich nach dir rufe?" fragte Arabella verärgert, als sie die schmalen Steinstufen hinab in den Hof stieg. Sie hätte sich ja denken können, dass die Schwester hier steckte. Prudence' Begeisterung für das Gärtnern erstaunte Arabella immer wieder aufs Neue. Ihre diesbezüglichen Kenntnisse und ihr Einfallsreichtum waren wirklich etwas Besonderes. Und die Pflanzen dankten es ihr mit einer ungeheuren Blütenpracht. Der ganze Hof duftete nach Geißblatt, das sich die Wände hinaufrankte, und aus den zahllosen Tongefäßen ergoss sich ein wahres Meer der schönsten Blumen.
Eigentlich war Prudence gutherzig und von großzügigem Wesen. Sie besaß aber auch ein bemerkenswertes Temperament und konnte ein wirklicher Sturkopf sein, was leider häufig dazu führte, dass sie alle Anstandsregeln brach. Wenn sie sich nicht gerade mit ihren Pflanzen beschäftigte, war ihr Betragen des Öfteren dazu angetan, Arabella und Tante Julia zur Verzweiflung zu treiben. Arabella glaubte, dass der Schwester die starke männliche Hand fehlte. Was wohl ihr Bruder, Sir Thomas Fairworthy, zu Prudence' Eskapaden sagen würde? Heute sollte er endlich aus dem französischen Exil zu ihnen zurückkehren …
Prudence war nicht entgangen, dass die Stimme der Schwester verstimmt klang. Offenbar war Arabella alles andere als begeistert, weil sie so lange nach ihr hatte suchen müssen. Eilig richtete Prudence sich auf und legte den kleinen Spaten beiseite, dann wandte sie sich um. Geistesabwesend wischte sie die Hände am Rock ab. "Ich bin hier, Arabella!" Sie ging über den Hof, ein Lächeln auf dem hübschen herzförmigen Gesicht. "Was gibt es denn? Stimmt etwas nicht?"
"Etwas? Nichts stimmt! Liebe Güte, Prudence, schau dir doch nur einmal an, wie du aussiehst!" erklärte Arabella aufgebracht, stemmte die Hände in die Hüften und musterte die Jüngere von Kopf bis Fuß. Rock und Bluse waren schmutzig, ja, sogar die Wangen waren schwarz. "Ich rufe schon die ganze Zeit so laut nach dir, dass die ganze Nachbarschaft mich gehört haben muss. Wir machen uns Sorgen, wo du wohl abgeblieben bist. Du weißt doch, wie viel wir für das große Diner heute Abend noch vorbereiten müssen – aber du hast ja nichts Wichtigeres zu tun, als Unkraut zu jäten. Dabei hätten Tante Julia und die Köchin dich viel dringender bei den Vorbereitungen in der Küche gebraucht."
Prudence hielt dem vorwurfsvollen Blick stand, strich sich das Haar aus dem Gesicht und sah die Schwester herausfordernd an. "Was dachtest du denn, wo ich bin?"
"Bei Molly Rowan. Du weißt ja, es ist mir ein Dorn im Auge, dass du immer mit diesem Mädchen zusammensteckst. Sie ist ein leichtfertiges Geschöpf, und dieser Will Price, der für ihren Vater arbeitet, ist keinen Deut besser. Wie er dich immer ansieht mit diesen Hundeaugen! Zudem ist er ein schrecklich mürrischer und unhöflicher Mensch. Du darfst ihm auf gar keinen Fall Hoffnungen machen, Prudence. Und ich erlaube nicht, dass die beiden einen schlechten Einfluss auf dich ausüben!"
Molly Rowan war im gleichen Alter wie Prudence und die Tochter eines Gärtners. Die beiden Mädchen hatten einander kennen gelernt, als Prudence im Jahr zuvor nach London gezogen war und in der Gärtnerei einige Pflanzen erstanden hatte. Will Price konnte sie leider nicht aus dem Wege gehen, wenn sie zu den Rowans kam, um Molly zu besuchen oder einen Rat bei deren Vater einzuholen. Der junge Mann arbeitete nun einmal dort.
"Ich habe doch hoffentlich genug Verstand, um mich von niemandem beeinflussen zu lassen, Arabella. Und außerdem habe ich Will Price noch nie schöne Augen gemacht", entgegnete sie, und das stimmte, denn auch ihr war es unangenehm, wie der Bursche sie ansah. Tatsächlich versuchte sie stets, ihm nach Möglichkeit nicht zu begegnen. "Wie kommst du nur darauf, er gefiele mir? Das Gegenteil ist der Fall! Ansonsten gebe ich dir aber Recht, was ihn angeht. Er hat keinerlei
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