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Sturmwelten 01

Sturmwelten 01

Titel: Sturmwelten 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hardebusch
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doch sie hatten diese Aufgabe längst an Sinao abgegeben. Niemand konnte so gut mit Zahlen umgehen wie sie. Obwohl ihre Lampe nur ein schwaches Licht warf, das nur wenige Schritt weit reichte, wusste Sinao genau, wie viele Laibe Brot, wie viele Fässer mit Öl, wie viele Kisten Schildkrötenfleisch sich in allen Kellern befanden. Sie wusste, wo jede Kiste stand und was sie enthielt. Sie vergaß niemals eine Zahl, die sie sich einmal eingeprägt hatte.
    Deswegen musste sie auch nicht lange suchen und hatte ihre Arbeit schnell getan, schneller, als die anderen es gemeinsam gekonnt hätten. Als die Kisten mit dem getrockneten Brot nahe der breiten Treppe standen, blickte sie hinauf. Kein Licht zeichnete sich ab, die Luke blieb verschlossen. Schnell lief sie nach hinten, vorbei an den Vorräten, bis sie hinter Fässern mit wässrigem Bier eine kleine Ecke erreichte. Noch einmal blickte sie sich um, und als sie kein Licht sah und nichts hörte, außer ihrem eigenen Atem und dem Rascheln und Kratzen der Ratten, kniete sie nieder und tastete im Zwielicht, bis sie den losen Felsbrocken spürte und zur Seite schob. Ehrfürchtig griff sie in das dunkle Loch und zog das kleine Bildnis heraus.
    Es war eine einfache Arbeit; ein flacher Granitstein mit drei Spitzen, in den das Gesicht von Anui, dem ältesten der Ahnen, dem ersten Paranao und Herrn über die glühende Sonne, eingeritzt war. Sinao wusste, dass eine Spitze zum Himmel zeigte, während die anderen beiden zu den Ländern der Lebenden und der Toten wiesen. Ihre Mutter hatte diesen Stein besessen und ihr gegeben, als man sie fortgeholt hatte. Sie hatte ihn Zemi genannt, wie die mächtigsten der Ahnen hießen, und Sinao hatte ihn in all den Jahren seit ihrer Trennung mit sich geschmuggelt und versteckt.
    Die Sklaven durften nichts besitzen, nicht einmal Kleidung, alles gehörte der Compagnie, aber Sinao wusste, dass jeder von ihnen seine Habe hatte, irgendwo verborgen, so wenig und doch so wichtig. Wenn die Soldaten oder, schlimmer noch, der Caserdote von diesem Götzenbild, wie sie es nennen würden, erführen, dann drohten Sinao Prügel oder andere Bestrafungen. Vielleicht würde man sie sogar an einen der Festungsbalken hängen, bis ihr Gesicht ganz blau geworden war und sie nicht mehr strampelte.
    Ungeachtet dieser Gefahr nahm sie das Bildnis in die Hand und drückte es gegen ihre Stirn. Die Zemi waren in diesen Steinen. Wortlos bewegten sich ihre Lippen, als sie im Geist ein Gebet formte. Erstens: Lass uns den Knuten unserer Aufseher entgehen, mächtiger Anui. Zweitens: Hilf den Neuangekommenen, damit sie nicht erschossen werden oder totgepeitscht oder aufgehängt. Drittens: Strafe Bebe für seine dummen Worte und auch Brizula. Viertens …
    »Sinao?«, unterbrach sie ein Ruf. Ihre Hand umklammerte den Zemi so fest, dass ihre Knöchel im flackernden Licht weiß hervortraten.
    »Ja?«
    Ihre Stimme war zittrig; sie selbst konnte die Schuld darin hören. Jeder andere musste wissen, dass sie etwas Verbotenes tat. Gleich würden die Rufe ertönen, die Schritte schwerer Stiefel auf den harten Boden knallen, man würde sie packen und fortschleifen.
    »Der Herr will dich sehen«, rief Brizula mit ihrer dunklen Stimme, und Sinao hätte vor Erleichterung beinahe geweint.
    »Ich komme.«
    Hastig legte sie den Zemi-Stein wieder in sein Versteck, nahm die Lampe und kehrte zur Treppe zurück. Sie nutzte die zwölf Stufen, um sich zu beruhigen, auch wenn sie sicher war, dass man ihr den Schreck noch ansehen konnte. Brizula hatte »der Herr« gesagt, und das konnte nur eines bedeuten: Mister Tangye, der oberste der Aufseher. Tatsächlich stand er in der Küche und klopfte ungeduldig mit der Hand auf einen Tisch, während die Sklaven wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht an der Wand standen. Sofort senkte Sinao den Blick, denn der Mister wurde wütend, wenn ihn ein Sklave direkt ansah. Und es war nicht gut, Mister Tangye zu erzürnen.
    »Da bist du ja endlich, Sin! Ich will etwas über das Schiff wissen, das heute gekommen ist. Hast du die Vorräte gezählt und verstaut?«
    »Ja, Herr«, antwortete sie und hielt ihre Stimme flach und ausdruckslos.
    »Gut. Schreib mir eine Liste und vergleich sie mit den Frachtpapieren«, befahl der Aufseher und kratzte sich am Bart. »Die gebe ich dir noch.«
    »Ja, Herr.«
    Einige Momente schwieg er, nur das Geräusch seiner Finger auf seinen Bartstoppeln war zu hören.
    »Wenn ich noch einmal auf dich warten muss, dann gebe ich dich für eine Nacht

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