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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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die dich anhimmeln, ihre Gefühle um die Ohren, und für die anderen bringst du dich fast um.«
    »Für dich«, sagte Felicia, »bringe ich mich bestimmt nicht um. Ich habe mich nur eben ein bißchen schwach gefühlt und allein, sonst hätte ich nie so dummes Zeug geredet.«
    »Schwach und allein!« Alex' Lächeln war kalt, aber dahinter lauerte verborgene Zärtlichkeit. »Das glaub' ich gern, mein Liebling. Maksim hat dich offenbar verlassen. Dein Gatte ruht unter der Erde. Dein Geld ist dahin. Ja, ich kann mir schon denken, daß ich an Wert gewinne für dich. Du bist sehr wendig, Felicia. Die Zeiten werden mager, also siehst du dich rasch nach Hilfe um.«
    Sein Spott brannte, wie keine Wunde in ihrem Leben je gebrannt hatte. Sie wußte nicht, warum er sie so treffen konnte, sie wollte es auch nicht wissen. Sie wollte nur, daß er bliebe, daß er nicht auch davonginge wie alle anderen, wie Maksim, Vater, Christian, Tante Belle und Benjamin. Auf einmal hatte sie das Gefühl, als sei sie ganz allein auf der Welt und als sei dieWelt schwarz und bedrohlich und als sei die letzte Insel dieses Zimmer - und dieser Mann.
    Sie begriff erst später, daß sie buchstäblich vor ihm auf den Knien gelegen hatte, so wie sie gerade vor dem Kamin kauerte, die Hände auf dem Schoß, die halbtrockenen Haare wirr um die Schultern.
    »Ich liebe dich, Alex«, sagte sie, und ihr Verstand arbeitete noch klar genug, um sie gleichzeitig denken zu lassen: Seltsam, ich bin dreiunddreißig Jahre alt, und es ist das erste Mal, daß ich das zu einem Mann sage.
    Aber nun hatte sie es gesagt, und es war wie eine Befreiung. Alex wußte jetzt, woran er war; den nächsten Schritt mußte er tun.

    Zur gleichen Zeit stand Mascha Iwanowna am Eingang der Baracke, in der sie Jahre ihres Lebens verbracht hatte, und wartete. Sie hielt eine Tasche in der Hand, die ihr ganzes Hab und Gut enthielt.
    Die Aufseherin hatte ihr befohlen, stehend zu warten, und zwar bei offener Tür; eine letzte Schikane, die ihr offenbar Befriedigung brachte. Die Kälte des sibirischen Winters brannte in der Haut und schien selbst die innersten Knochen auszuhöhlen. Mascha sah hinaus in den Himmel, der schneeschwer über der Erde lastete, sie sah auf die Schneefelder, die sich am Horizont verloren und mit dem Himmel zu jener furchtbaren Einsamkeit verschmolzen, die tödlicher sein konnte als Hunger und Frieren, harte Arbeit, wenig Schlaf und Krankheit. Ein paar Krähen schrien über der öden Weite, aber heute waren ihre Schreie nicht die verzweifelte Antwort auf die Trostlosigkeit der Welt, heute vernahm Mascha den Triumph derer darin, die trotzdem leben. Ich werde frei sein, dachte sie, ich werde frei sein.
    Sie hatte kaum mehr daran geglaubt, denn wenn auch die sieben Jahre ihrer Verbannung vorüber waren - wer sollte sich ihrer erinnern, wer kannte noch ihren Namen? Sie hatte verlangt, Kontakt mit ihrem Anwalt aufnehmen zu dürfen, aber man hatte sie hohnlachend gefragt, wie sie sich das vorstelle. »Glauben Sie, der reist Tausende von Kilometern, um mit Ihnen zu sprechen?«
    Die neue Zeit brauchte Menschen. Stalin, der neue Mann im Kreml, der Heilige, der Führer, der Revolutionär, hatte den zweiten Umsturz eingeleitet - die Verwandlung des Agrarlandes in einen modernen Industriestaat. Die Güterwaggons, die aus dem Westen in den Ural oder nach Sibirien fuhren, transportierten Menschen, Menschen, Menschen. In den Weiten der Steppen wuchsen Städte, Häuser, Fabriken aus dem kalten, unwirtlichen Boden. Im Süden entstanden Stauseen, Elektrizitätswerke, Schornsteine.
    Und allen voran kämpfte die große Industriestadt an der Wolga um ihren Platz in der modernen Zeit - Zarizyn, als Huldigung für den großen Führer in Stalingrad umbenannt. Nein, wenn die Züge zurückfuhren, waren sie leer, sie brachten Menschen, dieses kostbare Material, nicht von Osten nach Westen. Nachts lag Mascha wach, lauschte auf das Heulen des Windes, der über die eisige Steppe brauste, und dachte: Sie werden mich nicht gehen lassen. Sie brauchen jede Hand. Ich werde hier bleiben - lebendig begraben.
    Aber irgend jemand hatte sich ihrer Sache angenommen. Jemand hatte für sie gefochten. Weit weg, im fernen Leningrad, gab es jemanden... eine innere Stimme sagte ihr, daß es Maksim sein mußte. Er hatte sie nicht aufgegeben, ebensowenig, wie sie sich aufgegeben hatte. Ihrer beider Lebenswille hatte sie durchhalten lassen, und jetzt gab es in ihr sogar einen neuen Glauben an die Zukunft. Sie wußte

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