Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
Der berüchtigte Bengale Ming
Das Einzige, was ich über diesen Mittwoch, den schlimmsten und unglaublichsten Tag in meinem Leben, ohne Zweifel sagen kann: Er begann sehr schön. Ich erwachte im sommerlichen Morgengrauen, wenn der Himmel sich indigograu verfärbt und eine zähe, alles umhüllende Wärme die kühle Leere der Luft zu füllen beginnt. Am anderen Ende meines Geheges schnurrten sich Saskia und Maharaj an. Ich hatte mir die ganze Nacht ihr Geturtel und ihre Schreie beim Sex anhören müssen, aber es störte mich nicht. Auch wenn ich noch nicht wusste warum, spürte ich: Ich bin darüber hinweg. Meinetwegen konnte Saskia mit jedem Tiger der Welt schlafen, was kümmerte es mich?
Ich streckte mich, schmatzte einmal und leckte mir die Lippen, auf denen die vertrauten Aromen des Tages lagen. Irgendwie spürte ich bereits, dass dieser Morgen anders werden würde als alle bisherigen in meinem Leben. Jenseits der Mauer planschten und alberten die Nilpferde, und die Affen und Vögel, die schon vor der Dämmerung wach gewesen waren, stimmten in der Ferne nun ihren morgendlichen Chor an; ihr Krächzen, ihr Kiiee-Kiiee und Karuu-Karuu-Karuu hallten über unser kleines Reich. Es waren dieselben Geräusche wie jeden Morgen, aber an diesem Morgen war das alles schöner als je zuvor – ja, dieser Morgen war anders. Ich kam nicht gleich auf den Grund, aber nach einer Weile fiel es mir wie Schuppen von den Augen:
Ich war verliebt.
Nicht in einen Tiger in meinem Gehege – nein, die Möglichkeiten unseres kleinen Kreises hatte ich schon vor langer Zeit ausgeschöpft, und außer Saskia war seit Jahren niemand mehr neu hinzugekommen. Mein Herz schlug nicht für einen anderen Tiger. Ich war in meinen Pfleger verliebt, Kitch.
Ich weiß, das klingt seltsam. Auch für mich selbst kam es etwas überraschend, aber es ließ sich wirklich nicht mehr leugnen.
Und es war umso seltsamer, weil ich Kitch schon seit Jahren kannte. Damals, als ich noch ein Junges war, war er eine Art Gehilfe meiner ersten Pfleger gewesen, ein drahtiger und nervöser junger Mann mit einer Nickelbrille. Es war lustig anzusehen, wie er immer bemüht war, den Weg zwischen sich und der Gehegetür frei zu halten, für den Fall, dass er flüchten musste. Es stimmt, was man über uns sagt: Wir können Angst riechen, deshalb fiel er mir auf. Auch ich war damals nervös in Gegenwart von Menschen, und seine Art machte mich neugierig auf ihn.
Über die Jahre kamen und gingen die Pfleger, Tiger verschwanden und neue kamen dazu, aber Kitch war immer da. Er ließ sich einen Schnurrbart wachsen und tauschte seine Brille gegen Kontaktlinsen. Seine Wangen wurden voller, und sein Bauch rundete sich. Wenn er die Kappe abnahm, sah sein Haar von Mal zu Mal dünner aus. Er rasierte sich den Schnauzbart. Er legte die Vorsicht ab, die ich einst so faszinierend gefunden hatte.
Seine Art veränderte sich und sein Aussehen auch, aber er war und blieb derselbe liebe Kitch. Und an jenem Mittwoch war ich aufgewacht und hatte gemerkt: Kitch. Kitch! Ich liebe Kitch. Diese Erkenntnis fühlte sich an, als würde man feststellen, dass der Knochen, an dem man seit Monaten genüsslich herumknabbert, der Knochen des ärgsten Feindes ist. Der Knochen ist derselbe und der Genuss, den er bringt, auch, doch plötzlich erscheint alles in einem ganz neuen Licht. Zugegeben, das ist ein schlechtes Beispiel, aber ich will damit sagen: Ich hatte gerade meine tiefe und grenzenlose Liebe zu dem besten Freund entdeckt, den ich je im Leben hatte.
Wahrscheinlich sollte ich das näher erläutern. Es war nicht dieselbe Art von Liebe, wie wenn man eine scharfe neue Mieze sieht, von der man die Krallen nicht lassen kann. Ich liebte Kitch nicht so, wie ich Saskia geliebt hatte, nicht mit derselben, sagen wir, brüllenden Leidenschaft. So aufregend war diese Liebe nicht.
Sie war anders. Wenn sich die großen Stahltore in dem Glasfaserfelsen öffneten und pfundweise Rindfleisch und frische Innereien den Gang hinabgeschlittert kamen, wessen Gesicht sah man in der dunklen Ferne, wer stand dort mit der Schaufel in der Hand? Kitch. Wenn Maharaj unruhig zu knurren begann und Streit suchte, wer hörte sein heiseres Gebrüll als Erster und kam mit dem Wasserschlauch, um ihn mir vom Leib zu halten? Kitch. Er interessierte sich für mich wie am ersten Tag, und ich staunte immer wieder über ihn, fand Trost und Freude in ihm.
Ich glaube, das würde ich als Liebe bezeichnen.
Und als mir klar wurde, dass ich Kitch
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