Sturmzeit
eingefallen, das Kapital zu lesen, nur um über etwas reden zu können, was sie doch nicht berührte.
Sie setzte auf ihre Augen, ihren Mund, ihr glänzendes Haar, auf tiefausgeschnittene Kleider und geheimnisvolle Parfüms. Sie saßen schweigend, bis die Sonne unterging, und in ihrem Schweigen lag der Abschied von einer Zeit, die fast unmerklich vorbeigegangen war. Schließlich stand Maksim auf, griff Felicias Hand und zog sie neben sich hoch. »Es wird kalt«, sagte er, »wir sollten nach Hause gehen.«
Sie standen einander dicht gegenüber, Felicia mit einem breitrandigen Hut aus blaulackiertem Stroh auf dem Kopf. Sie hob ihr Gesicht, öffnete leicht die Lippen, erwartungsvoll, weil es ihr unsinnig schien, einen Moment wie diesen zu vertun. Sekundenlang konnte sie in Maksims Augen etwas von der alten Zärtlichkeit entdecken, dann erlosch sie schon wieder, und mit einem etwas mühsamen Lachen erklärte er: »Nein. Ich mach'dich nicht unglücklich, und mich schon gar nicht.«
Was redete er da? Von welchem Unglück sprach er?
»Na, dann nicht«, sagte sie schnippisch, »wenn du von nun an wie ein Mönch leben willst, dann tu's doch!«
»Ich will meinen Weg gehen, Felicia. Und du wirst deinen gehen, und ich glaube nicht, daß sich diese Wege jemals kreuzen werden.«
»Heißt das, wir sehen einander nie wieder?«
»Wir sehen uns nicht so wieder, wie du dir das vorstellst.«
»Warum nicht?«
Mit einer zornigen Bewegung riß Maksim einen Zweig von einem Baum und zerbrach ihn in kleine Stücke. »Wirst du das denn nie verstehen, Felicia?«
»Danke, ich habe längst verstanden. Du mußt ja das internationale Finanzmonopol stürzen, und da bleibt dir natürlich für nichts sonst Zeit. Lieber nächtelang Marx anhimmeln, als einmal ein Mädchen küssen! Ein aufregendes Leben, wirklich. Ich wünsche dir viel Spaß dabei!« Sie drehte sich um und rannte davon. Sie kannte den Weg im Schlaf, und irgendwie gelangte sie über Wurzeln und Äste hinweg, ohne zu stürzen. Natürlich hatte sie erwartet, er werde ihr nachkommen, aber nach einer Weile stellte sie fest, daß er offenbar gar nicht daran dachte. Vor Wut und Verletztheit kamen ihr die Tränen. Erst an der Auffahrt von Lulinn riß sie sich zusammen, putzte die Nase und trocknete das Gesicht.
Das Herrenhaus von Lulinn war zweihundert Jahre zuvor erbaut worden, obwohl die Familie Domberg seit dreihundert Jahren auf diesem Grund und Boden saß. Das erste Haus war eines Nachts in Flammen aufgegangen - eine wahnsinnige Vorfahrin, so hieß es, habe das Feuer aus Eifersucht gelegt -, und das neue war an seiner Stelle aus der Not des Augenblickes heraus recht schmucklos und einfach entstanden: ein großesGebäude aus grauem Stein, mit vielen Fenstern, Efeu umkletterte es, zu seinen Füßen lag ein blühender Rosengarten, und auf sein Portal führte eine eichengesäumte Allee, an die sich rechts und links weite Koppeln anschlossen, auf denen Trakehner, der Stolz des alten Domberg, grasten. Jetzt lag alles im Dunkeln, in den Eichen ging der Wind, die Pferde bewegten sich als dunkle Schatten wie Elfen über die Wiesen. Felicia blieb stehen und sah sich hoffnungsvoll um. Manchmal kam ein Wagen vorbei, dann brauchte man die lange Allee nicht zu Fußzu gehen.
Aber diesmal blieb alles still. Mit einem Seufzer wollte sie sich auf den Weg machen, da vernahm sie ein Rascheln im nahen Erlengebüsch. Eine dunkle Gestalt huschte hervor.
»Nicht erschrecken, Fräulein, nicht erschrecken. Ich bin es, Jadzia!«
»Ach Gott, Jadzia, hast du mich erschreckt! Was treibst du dich denn da im Gebüsch herum?«
Jadzia war Dienstmädchen auf Lulinn, eine alte Polin, von der Großvater Domberg immer sagte, man wisse bei ihr nicht, ob sie sich für ihre Herrschaft vierteilen ließe oder sie alle eines Nachts in ihren Betten ermorden würde. Sie ging eigene, geheimnisvolle Wege, manchmal war sie verschwunden, dann tauchte sie unversehens wieder auf. Entweder, so hieß es, war sie Schmugglerin oder Sozialistin - oder beides.
»Ich weiß etwas«, sagte sie.
»Was denn?« Es konnte ja immerhin etwas Interessantes sein. Jadzia trat näher. »Den österreichischen Thronfolger haben sie erschossen. Heute, in Sarajewo. Täter soll gewesen sein Serbe!«
Wenn es weiter nichts war! »Ach«, sagte Felicia gleichgültig.
»Wird gäbn Krieg«, fuhr Jadzia fort, »großer Krieg!«
»Sicher nicht, Jadzia. Warum sollte daraus ein Krieg entstehen?«
Jadzia murmelte etwas auf polnisch. Felicia ging weiter.
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