Sturmzeit
Pfiff aus, dumpf rumpelten die Räder über die Geleise. Die beiden Jungen sahen zum Fenster hinaus, aber es war schon tief in der Sommernacht, und sie konnten nur das Spiegelbild ihres schwach erleuchteten Abteils sehen.
»Jetzt dauert es nicht mehr lange bis Insterburg«, sagte Christian, und in seiner Stimme klang aufgeregte Freude. Er war Felicia Degnellys jüngerer Bruder, gerade sechzehn geworden, und er gehörte zu denen, auf die das Reich mit Stolz blickte: Er war ein Kadett. Er durchlief jenen Weg, auf dem Kinder bereits zu Soldaten gemacht und im Sinne bester preußischer Traditionen erzogen wurden, gedrillt bis zum Umfallen, gebildet wie kleine Professoren, infiziert aber vor allem mit einer heiligen Liebe zum Kaiser, zum Vaterland - und zum Tod. Christian und sein Freund Jorias, der keine Eltern mehr hatte und daher in das Familienleben der Degnelly-Familie miteinbezogen war, hatten erst vor kurzem das Vorkorps in Köslin verlassen und bereiteten sich in der Hauptkadettenanstalt Lichterfelde auf ihr Fähnrichexamen vor. Sie trugen graue Uniformen mit engen, steifen Kragen, blütenweiße Handschuhe und voller Stolz die weißen Schulterklappen der HKA. Sie sahen sehr erwachsen aus, aber Offizierslaufbahn hin oder her - sie waren sechzehn! Und es war Sommer, die Ferien begannen. Lulinn wartete. Für gewöhnlich, wenn sie in diesem Zug saßen, drehten sich die Gespräche nur um die kommenden fünf Wochen, diesmal jedoch verhielten sich beide recht schweigsam. Obwohl der Zug sie Kilometer für Kilometer von Berlin fortführte, obwohl die Freiheit winkte und sie den Rest dieser Nacht schon in ihrer heißgeliebten Dachkammer auf Lulinn schlafen würden, spukten in ihrer Erinnerung noch allzu deutlich die Worte ihres Hauptmannes, mit denen er mittags vor die Kompanie getreten war. »Der österreichische Thronfolgerund seine Gemahlin sind in Sarajewo ermordet worden, wahrscheinlich von einem serbischen Attentäter. Es ist nicht ausgeschlossen, daß noch während Ihres Urlaubs Seine Majestät der Kaiser den Zustand drohender Kriegsgefahr ausrufen wird. In diesem Fall finden Sie sich bitte unverzüglich und ohne auf weiteren Befehl zu warten hier im Kadettenkorps ein!«
Drohende Kriegsgefahr, drohende Kriegsgefahr... die Räder schienen diese Worte immer wieder zu singen.
Ich habe eigentlich keine Angst, dachte Christian, nein, es ist nur so unwirklich. Ich kann mir den Krieg nicht vorstellen.
»Noch jemand in Königsberg zugestiegen?« Der Schaffner war plötzlich aufgetaucht und sah sich suchend um. Er musterte die beiden Jungen wohlwollend. »Ah - das ist die Jugend, auf die Deutschland stolz sein kann! Die Hüter und Bewahrer Brandenburg-preußischer Tradition! Sind Sie denn auch bereit, für Kaiser und Vaterland auf dem Feld der Ehre zu sterben?«
Er redet so, als wären wir schon im Krieg, dachte Jorias unbehaglich. Aber man war nicht umsonst seit Jahren auf Fragen wie diese eingeschworen.
»Jawohl!« sagten die beiden Kadetten wie aus einem Mund, dann sahen sie einander an, und es war, als riefen sie einander zu: Aber nicht jetzt. Nicht jetzt. Der Sommer beginnt doch gerade erst...
2
Der alte Ferdinand Domberg pflegte zu sagen, es gebe mancherlei Schlimmes, was einem Mann in seinem Leben widerfahren könne, aber das Schlimmste sei zweifellos, Vater von Töchtern zu werden.
Söhne konnten einen Mann zur Weißglut treiben, sicher (er hatte zwei solche Exemplare; Victor, der Älteste, konnte vor Selbstgerechtigkeit kaum aus den Augen schauen, und Leo, der Jüngste, vertat sein Leben als mittelloser Maler), aber hin und wieder konnte man sie anschreien und böse Worte zu ihnen sagen und sich das Herz erleichtern, indem man ihnen alle Strafen des Himmels auf den Hals wünschte.
Töchter hingegen... sie ließen sich viel schwerer beschimpfen, und man wußte nie, was sie dachten, und sie handelten sowieso immer anders, als sie sprachen. Selbst wenn sie zu seinen Vorhaltungen mit bekümmerter Miene schwiegen, wußte er, daßsie ihm in Wahrheit nicht einmal zuhörten. Was seine beiden Töchter anging, so hatten sie ihn vor Jahren schwer gekränkt, indem sie beide Männer heirateten, mit denen er nicht einverstanden gewesen war. Elsa, immerhin die Mutter seiner Lieblingsenkelin Felicia, hatte ihm ihren Auserwählten, einen Berliner Arzt, nicht einmal vorgestellt, sondern ihn erst nach der Hochzeit gewissermaßen als unabänderliche Tatsache präsentiert. Und Belle, die jüngere, die vor nichts und niemandem
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