Sturmzeit
mitschwingen, überhaupt kam sie ihm vor wie eine einzige Provokation. Sie war ebenso höhere Tochter wie Femme fatale, und beide Rollen vermochte sie wahrscheinlich recht überzeugend zu spielen. Sie war die Aristokratin mit Hut und Handschuhen und teurem Schmuck, sie war aber auch die Bäuerin, die barfuß am Rande eines staubigen Feldweges kauerte und sich mit einem großen Ahornblatt kühle Abendluft zufächelte.
Doch das eigentliche Rätsel lag in ihren Augen.
Sie waren von einem reinen, hellen Grau, ohne den geringsten Anflug eines mildernden Blaus oder Grüns darin. Kühle Augen, die in vollkommenem Widerspruch zu dem Lächeln des Mundes standen. Eigenartig entrückte Augen, abweisend und herrschsüchtig. Geheimnisvolle Augen, die nichts preisgaben und so aussahen, als ließen sie es nicht zu, daß ihre Besitzerin jemals ganz erforscht und erkannt würde.
Dieses Mädchen gibt sich niemandem ganz, dachte Alex. Er hatte plötzlich das eigenartige Gefühl, in einen Spiegel zuschauen, und scheuchte seine Gedanken hastig fort: So ein Unsinn! Romantisches Gewäsch. Ein ganz normales Mädchen, und der Maler hat sie wohl nicht besonders gemocht und ihr deshalb so kalte Augen gegeben.
»Hübsch«, sagte er daher nur beiläufig, »eine hübsche Schwester haben Sie, Herr Oberleutnant!«
»Sie verdreht jedem Mann den Kopf, der ihr über den Weg läuft«, entgegnete Johannes, »aber anstatt endlich zur Ruhe zu kommen und zu heiraten, hängt sie ihr Herz an einen fanatischen Sozialisten, der für sie nur Verachtung übrig hat.«
»Paßt«, sagte Alex, »Frauen wie sie ertragen es nicht, angebetet zu werden.«
Sie hatten unterdessen die Wohnung verlassen und standen im Treppenhaus mit seinen breiten Stufen und roten Läufern. Linda und Johannes hielten einander bei den Händen und konnten sich nicht trennen, während sich Alex und Phillip in ein Gespräch über deutschen und französischen Wein vertieften. In der Wohnung im Erdgeschoß ging die Tür auf, und der alte Amtsgerichtsrat, der dort wohnte, streckte den Kopf hinaus. Er war sehr einsam und lag ständig auf der Lauer, um jemanden der Familie Degnelly zu erwischen und in ein Gespräch zu verwickeln. Jetzt, zu dieser mitternächtlichen Stunde, glühten seine Augen begeistert.
»Haben Sie schon gehört, was passiert ist?« fragte er. Johannes, der ein schlechtes Gewissen wegen der lauten Grammophonmusik hatte, lächelte verbindlicher als sonst.
»Nein. Was ist denn geschehen?« Wahrscheinlich hatte die Nachbarskatze Junge bekommen oder etwas ähnlichWelterschütterndes war geschehen.
»Auf das österreichische Thronfolgerpaar wurde ein Attentat verübt. In Sarajewo. Sie sind beide tot. Der Täter kam wohl aus dem serbischen Untergrund.«
Johannes ließ Lindas Hand los. Phillip und Alex verstummten.
»Was?« fragte Johannes schließlich.
»Jaja. Alle Extrablätter verkünden es. Erzherzog Franz Ferdinand ist tot!«
»Aber das ist ja...« Für einen Moment standen sie alle wie versteinert. Dann murmelte Phillip: »Der nächste Krieg wird von irgendeiner ganz lächerlichen Angelegenheit auf dem Balkan ausgelöst werden.«
»Was?«
»Bismarck. Bismarck hat das mal gesagt.«
Alex grinste. »Die lächerliche Angelegenheit auf dem Balkan. Ja, Freunde, ich schätze, das ist sie. Dann gute Nacht.«
Er setzte seinen Hut auf und ging pfeifend die Treppe hinunter, während hinter ihm lebhaftes Stimmengewirr einsetzte.
»Bei den Serben und Kroaten hat es schon zu lange gebrodelt. Österreich wird sich diese Provokation nicht gefallen lassen.«
»Dann hängen wir mit drin. Deutschland hat ein Bündnis mit Österreich. Andererseits weiß kein Mensch, ob die serbische Regierung beteiligt war, und wegen eines Attentäters...«
»Mein Vater sagt immer, wenn ein Krieg ausbricht, dann an der französischen Grenze, weil die Franzosen Elsaß-Lothringen in Wahrheit noch nicht aufgegeben haben.«
»Da hat er sicher recht, Linda.«
»Was meint ihr, werden die Österreicher...«
»Könntest du dir vorstellen zu sterben?« fragte Christian unvermittelt. Sein Freund Jorias, der vor sich hingedöst hatte, schrak auf. »Was meinst du?«
»Na ja, ich habe gerade darüber nachgedacht. Wenn es Krieg gibt und wenn er lange genug dauert, dann werden wir bestimmt auch noch eingezogen. Nächstes Jahr machen wir unserFähnrichexamen, und dann wären wir schon so weit. Es ist auf einmal... so eine verrückte Vorstellung!«
Jorias nickte langsam. Die Lokomotive stieß einen schrillen
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