Süden und das grüne Haar des Todes
dass man auf jeden Fall den Zettel mit der Telefonnummer des Anwalts in ihrem Pass findet. Es war ein Glück, dass wir die Nummer noch entziffern konnten. Und dass sie sich noch mit Gabriel Seberg getroffen hat.«
Nach einem Moment sagte Emmi: »Das war das größte Glück, freilich.«
Kurze Zeit später verabschiedete ich mich mit dem Versprechen, Emmi Bregenz nach der Bestattung Bescheid zu geben.
»Ich weiß noch nicht, ob ich da hingehen werd, zu der Wiese«, sagte sie an der Tür .
»Ich begleite Sie«, sagte ich.
»Das ist alles so schnell gegangen jetzt«, sagte sie. Dann griff sie nach meinem Arm. »Sie denken vielleicht, ich bin hartherzig. Aber so bin ich nicht. Wir haben unser Leben gelebt, mein Mann und ich, bescheiden, unsere Rente reicht gerade, Glück gehabt! Alle heiligen Zeiten besuchen wir unsere Tochter und unseren Schwiegersohn, manchmal ist Tanja auch da, Sie wissen, was sie alles anstellt, sie treibt sich rum, schwer zu sagen, was mit ihr los ist, sie sagt ja nie was. Jedenfalls, wir sind so was wie eine Familie. Und dann seh ich das Bild in der Zeitung und mir springt das Herz aus dem Leib. Und ich sag zu Max, die sieht aus, wie die Ruth heut aussehen würde, und ob das da am Kinn nicht eine Narbe ist, wie sie die Ruth hatte. Und er sagt, ja, könnt sein. Sicher waren wir uns nicht, gar nicht. Ich hab doch nur bei Ihnen angerufen, weil ich so erschrocken bin, und doch nicht, weil ich gedacht hab, sie ist es wirklich! Das war doch nur der Schrecken. Und jetzt ist nichts mehr, wies vorher war, es ist alles rausgekommen, und warum? Wegen jemand, der gar nicht mehr da ist! Stellen Sie sich das vor! Sie ist weg, und bei uns kommt alles ans Licht. Mein Mann hat noch kein Wort darüber verloren, dass er jetzt weiß, wer der Vater unserer Tocher ist. Hat ihn ja nie interessiert, Sie haben ja gehört, was er gesagt hat. Und jetzt? Ich hab zu ihm gesagt, red mit mir, und er sagt nichts. Der spinnt doch, der muss mit mir reden, der muss doch sauer sein, das muss den doch beschäftigen Tag und Nacht, ich könnt nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich so was erfahren würd. Sie? Ich nicht. Jetzt stehen sie alle da drin und warten auf was. Auf was? Dass mein Mann was sagt. Oder mein Schwiegersohn. Der sagt auch nichts. Die Tanja ist von einem anderen Mann, wenigstens kennt sie ihren Vater, sie sehen sich gelegentlich, das geht mich nichts an. Aber der nimmt das auch so hin, der Jonas. Die nehmen das alles so hin. Und ich muss es aushalten. Die Ruth. Jetzt hab ich meine Schwester in der Zeitung gesehen, und das wars. Das geht doch nicht! Dann ist sie tot, und ich weiß nicht mal, wo sie liegt. Ich hab damals nicht Abschied nehmen können und ich kanns heut nicht. Sie ist zweimal gestorben, und ich hab mich zweimal nicht von ihr verabschieden können. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was ich grade denken muss, ich kanns Ihnen nicht sagen. Sie würden mich auslachen. Sie würden laut lachen.«
»Bestimmt nicht«, sagte ich .
»Nein?«
»Nein«, sagte ich.
»Dann sag ichs Ihnen. Ich hab denken müssen, dass der zweite Schlafgott sie jetzt geholt hat, die Ruth. Es gibt nämlich zwei Schlafgötter, haben Sie das gewusst?«
»Nein«, sagte ich.
»Den einen, der jede Nacht kommt und abenteuerliche Geschichten erzählt, und den anderen, seinen Bruder, der nur ein einziges Mal zu jedem kommt und nur zwei Geschichten kennt, eine wunderschöne und eine schreckliche. Er kommt auf einem Pferd, auf dem er die Menschen mitnimmt. Aber ehe die Reise beginnt, fragt er nach dem Notenbuch, und wenn man es aufschlägt und es stehen gute Zensuren drin, dann erzählt dieser Schlafgott die wunderschöne Geschichte. Hat man aber schlechte oder nur mittelmäßige Zensuren, dann muss man sich die böse Geschichte anhören, und die ist so böse, dass man vor Entsetzen vom Pferd springen und weglaufen möchte. Aber das geht nicht. Denn man ist festgewachsen am Pferd und kehrt nie wieder ins Leben zurück. Daran hab ich grad denken müssen, weil der kleine Hjalmar, dem der freundliche Schlafgott, der immer wieder erscheint, alle diese Geschichten erzählt, am Schluss keine Angst mehr vor dem Tod hat. Und ich hab gedacht, die Ruth hat bestimmt keine Angst gehabt, da an der Isar, oder sonst wo, sie hat keine Angst gehabt. Nicht? Die Ruth?«
… Und die Furcht ist nie wiedergekommen, und deshalb habe ich mein Leben bis heute durchgestanden. Was ich am Anfang über die dunklen Jahre nach 1947 geschrieben habe, so möchte ich nicht,
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