Süden und das heimliche Leben
dankbar. Ich hör mir auch schon mal den Sermon von Hellsehern und Pendelschwingern an. Einmal haben wir auf diese Weise sogar jemanden gefunden, einen Mann, der an der Benediktenwand abgestürzt war, da hat uns die Hellseherin praktisch zu der Stelle geführt, wo der Mann lag. Schon eigentümlich.
Also, die Ilka Senner. Letztes Telefonat am ersten Juni, danach war das Handy aus. Ihre Mutter, fünfundsiebzig Jahre, hatte einen Herzinfarkt, ist inzwischen einigermaßen über den Berg, spricht aber kaum noch ein Wort. Sie behauptet, ihre Tochter sei in Urlaub gefahren. Ich weiß, ich hab dir gesagt, in der Wohnung deutet nichts darauf hin, und ihre Mutter ist auch die einzige Person, die den Urlaub erwähnt hat. Ilkas Freundin, Margit Großhaupt, weiß nichts davon. Ich hab dir die Telefonnummern und die Adressen auf den Zettel geschrieben.
Ilkas Vater starb, da war das Mädchen sieben. Ilka hat noch eine Schwester, Paula, die ist ein Jahr älter als du und hat bis vor einem Jahr in Berlin gelebt. Sie kam wegen ihrer kranken Mutter zurück, trotzdem scheint mir die Verbindung zwischen den beiden nicht sehr eng zu sein. Das gilt wohl auch für Ilka und ihre Mutter. Auch das Verhältnis der beiden Schwestern ist eher kühl bis kalt. Sie haben sich lange nicht gesehen, sie hatten wenig Kontakt. Paula ist wie ihre Schwester unverheiratet, wohnt zurzeit in der Kreuzstraße hinterm Sendlinger Tor und arbeitet in einer Boutique in Schwabing. Wo sich ihre Schwester aufhalten könnte, weiß sie nicht.«
Birgit Hesse hatte den Zettel auf den Tisch gelegt und blickte zu den ankommenden Zügen und dem Gewusel der Menschen auf und vor den Bahnsteigen. Süden stellte sich neben die Kommissarin und sah ebenfalls hinaus. Nach dem grauen, verregneten Wochenende war die Sonne zurückgekehrt, das Licht strömte wie beschwingt in die Halle. Süden bildete sich ein, sogar die Stimmen der Ansagerinnen würden weniger blechern klingen als sonst, erwartungsfroh, aufmunternd.
»Morgen lassen wir in den Zeitungen ein Lichtbild veröffentlichen«, sagte Birgit Hesse. »Übrigens hat sie kein Auto, sie hat ein Fahrrad, das sie aber selten benutzt, es steht abgeschlossen im Hinterhof.«
Süden sagte: »Dass sie am ersten Juni telefoniert hat, beweist nicht, dass sie noch in München war.«
»Natürlich nicht. Wir haben die Leitungen überprüft, sie hat von zu Hause angerufen, definitiv, und auch nur ihre Freundin Margit.«
»Worüber haben die beiden geredet?«
»Das ist allerdings etwas eigentümlich. Margit behauptet, es ging um einen Ausflug, den beide am Dienstag unternehmen wollten, wenn die Kneipe, in der Ilka bedient, geschlossen hat. Angeblich wollten sie an der Isar entlangradeln, nach Schäftlarn, irgendwo einkehren und wieder zurückfahren. Das würden sie im Sommer öfter machen. Ich war dann noch mal in dem Friseurladen, als Margit Mittagspause hatte, ich hab extra vorher angerufen, um ihr nicht zu begegnen. Ihre Chefin sagt, Margit hätte an diesem Dienstag arbeiten müssen, da war kein freier Tag eingetragen.«
»Du bist eine Hellseherin.«
»Ich mach meine Arbeit. Am Abend bin ich zu ihr in die Wohnung. Und was sagt sie?«
»Sie hätte vergessen, dass sie arbeiten muss, und wollte Ilka absagen …«
»… Aber das Handy war aus.«
Nach einem Schweigen, das Birgit Hesse nicht unterbrach, sagte Süden: »Ihr habt das Handy geknackt, und es war keine Nachricht auf der Mailbox. Aber Margit behauptet, sie hätte draufgesprochen.«
»Wie recht du hast.«
Wieder sagten sie eine Weile nichts, und diesmal unterbrach er ihr Schweigen nicht. »Sie gab sofort zu, gelogen zu haben. Sie behauptet, sie habe sich geschämt und am nächsten Morgen noch mal anrufen wollen, aber das habe sie dann in der Hektik vergessen.«
»Ihr beschattet sie jetzt.«
»Wir haben keine Leute«, sagte Birgit Hesse. »Wir müssten das auf eigene Faust machen, weil wir für die Aktion keine richterliche Genehmigung kriegen, der Aufwand wär viel zu teuer angesichts der dürftigen Beweise. Warum macht die Frau das?«
»Ilka hat ihr gesagt, dass sie eine Zeitlang verschwinden muss und sie sich keine Sorgen machen soll, aber zu niemandem ein Wort sagen darf.«
»Dann weiß Margit, wo sich ihre Freundin aufhält.«
»Glaube ich nicht.«
»Wieso nicht?«
»Ilka ist kein Mensch, der anderen Geheimnisse anvertraut.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Süden und sog den Parfümduft ein. »Ihre Freunde in der Kneipe
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