Süden und das heimliche Leben
zuvor hatte sie noch in der Kneipe »Charly’s Tante« in der Perlacher Straße 100 bedient. Am Dienstag, dem Ruhetag des Lokals, telefonierte sie gegen ein Uhr mittags mit ihrer Freundin Margit Großhaupt, anschließend schaltete sie ihr Handy aus und nicht wieder ein. Das Gerät lag auf dem Küchentisch, die Zimmer waren aufgeräumt, wie Hauptkommissarin Birgit Hesse Süden berichtete. Keine Hinweise auf einen überstürzten Aufbruch. Der Koffer auf dem Schlafzimmerschrank und die mit Wäsche gefüllten Schubladen, die Schminksachen im Bad und die Ansammlung von Sommerschuhen im Flur deuteten nach Meinung der Ermittlerin nicht darauf hin, dass die Mieterin eine längere Reise angetreten hatte.
»Wir haben die Nachbarn befragt«, sagte die Kommissarin zu Süden, nachdem er am Montag wieder in halbwegs geordnete, innere Verhältnisse zurückgekehrt war. »Sie wissen nichts. Nichts von Ilkas Plänen, nichts von einem Bekannten oder Freund, nichts von ihren Gewohnheiten, höchstens, dass Ilka, wie viele Leute rund um den Spitzingplatz, regelmäßig beim nahen Tengelmann einkauft. Ich hab mit dem Geschäftsführer und einer Kassiererin gesprochen, sie kennen die Frau vom Sehen, mehr nicht. Wie so oft.«
Wie so oft. Das hatte auch Süden gedacht, als er am Sonntag nach seinem von Charlotte Nickl eingenebelten Luftschnappversuch wieder am Stammtisch Platz genommen hatte. Wie so oft bei Vermissungen umgab die Zeugen, Verwandten und Bekannten eine große Erinnerungslosigkeit, die sie selbst kaum wahrnahmen. In der Überzeugung, Gutes zu tun, schmückten sie ihr vermeintliches Wissen mit phantastischen Girlanden und funkelnden Gedanken und verwandelten jeden zuhörenden Fahnder in einen Weihnachtsmann, von dem sie ein wundervolles Geschenk erwarteten: den Gesuchten in all seiner Pracht.
Doch Wunder waren selten bei Vermissungen. Nach Südens Erfahrung passierten sie eigentlich nie. Manchmal kehrte jemand freiwillig und erschöpft vom verkehrten Alleinsein zurück. Manchmal missglückte ein Selbstmordversuch. Manchmal hatte ein vermisstes Kind nur beim Nachbarn im Keller mit der Eisenbahn gespielt. Manchmal bestand eine Akte bloß aus Papier. Meist jedoch war alles ein einziges Entsetzen.
»Jetzt offiziell«, sagte Dieter Nickl und richtete Zeige- und Mittelfinger auf sein Gegenüber am anderen Ende des Tisches. »Du kriegst von uns das Geld, wir unterschreiben den Vertrag, fertig ist die Zeremonie. Her mit dem Vertrag.«
»Mal was anderes«, sagte Johann Baumann. Süden horchte auf, es war ein Reflex, der ihm sofort lächerlich vorkam. An diesem Ort »was anderes« zu erwarten, glich der Hoffnung eines Paparazzo auf einen Schnappschuss vom nackten Papst. »Wie wird man eigentlich Detektiv? Verdient man da was? Ist das eine solide Existenz?«
»Unbedingt«, sagte Süden. Während er das braune Kuvert mit dem Vertrag und der Kopie aus der Innentasche seiner Lederjacke zog und es Ring gab, der es an Baumann vorbei an den Wirt weiterreichte, schwieg er.
»Bist du angestellt?«
»Ja.«
»Kannst du davon leben?«
»Ja.«
»Immer schon?«
Süden sagte: »Ich war früher Hauptkommissar in der Vermisstenstelle der Kripo.«
»In der Vermisstenstelle der Kripo.« Die Verwandlung des dürren Finanzbeamten in die Nymphe Echo musste Süden verpasst haben. »Dann warst du Beamter beim Staat mit Pensionsansprüchen et cetera.«
»Unbedingt.«
»Und du hast da aufgehört, oder was?«, sagte Claus Viebel, dessen Augen inzwischen gut verglast waren, weswegen er vielleicht als Letzter am Tisch den Detektiv nun ebenfalls duzte.
»Ich hatte meine Gründe.«
»Welche?«, fragte Baumann.
Süden schwieg.
»Jetzt red halt.« Launig schlug Viebel ihm mit dem Handrücken gegen den Oberarm.
In der Zwischenzeit studierte Nickl den Vertrag. »Stift her!«, rief er, ohne sich zu seiner Frau umzudrehen. Charlotte brachte ihm einen Kugelschreiber. »Fünfundsechzig Euro in der Stunde ist schon hart. Aber ich weiß schon, andere sind noch teurer als ihr.« Er zögerte, kritzelte seinen Namen aufs Original und die Kopie und blies aufs Papier. Da es sich um einen schnell trocknenden Kugelschreiber handelte, faltete er die Kopie sofort wieder zusammen und steckte sie ins Kuvert. »Jetzt kannst nicht mehr aus, Süden, jetzt wollen wir die Ilka wiederhaben. Charly, bring uns eine Runde auf den Vertrag.«
Er hielt Baumann das Kuvert hin, und dieser reichte es an Ring vorbei an Süden weiter.
Viebel gestikulierte mit der rechten Hand. Es
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