Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
sah aus, als dirigiere er ein unsichtbares Orchester. »Das kapier ich einfach nicht: Du warst bei der Polizei, Kripo, Superverdienst, und dann hörst du da auf? Haben sie dich rausgeschmissen, oder was ist passiert? Kein Mensch hört freiwillig bei der Kripo auf, niemand. Das ist doch so, als wär ich wie der Johann beim Finanzamt und sag eines Tages, jetzt schmeiß ich alles hin und werd Gaukler. So was macht doch kein Mensch.«
    Süden sagte: »Ich bin Detektiv, kein Gaukler.«
    »Hab ich schon kapiert, war ein Scherz. Wieso bist du bei der Kripo ausgestiegen? Hast du wen erschossen?«
    »Ich war bei der Vermisstenstelle«, sagte Süden. »Ich habe auf niemanden geschossen.«
    »Aus dir wird man nicht schlau, Süden.«
    »Aus dir auch nicht.«
    »Ich bin ja auch nicht so schlau wie du.« Viebel grinste, und die Zähne, die man nicht sehen konnte, dachte Süden, waren womöglich aus Glas. Er hob sein Schnapsglas. Der Wirt nickte ihm vielfach ermutigend zu, und sie tranken auf ex, weil Nipper in der Kneipe Hausverbot hatten.
    »Das bayerische Verfassungsgericht«, sagte Nickl übergangslos, »hat das übrigens in einem Urteil festgeschrieben.« Charlotte, Viebel, Schütze und Ring zündeten sich eine Zigarette an. Süden tränten längst die Augen, nicht nur vom Qualm. »In einer geschlossenen Gesellschaft darf geraucht werden. Das ist das Urteil, und das steht fest und ist gültig. In einer geschlossenen Gesellschaft ist Rauchen grundsätzlich erlaubt.«
    »Grundsätzlich erlaubt«, sagte die Nymphe Viebel.
    Süden dachte: Diese Gesellschaft ist nicht geschlossen genug. Und das dachte er noch öfter an diesem Nachmittag, der langsamer verging als je ein Nachmittag seines Lebens zuvor.
    Am Ende war er zwar gewissenhaft bebiert, konservierte aber auf dem Heimweg einen glasklaren Gedanken: Die Spur zur verschwundenen Ilka Senner führte über die Frau des Wirts und über niemanden sonst.
    Seine Wohnung, die im selben Stadtteil lag wie die Kneipe »Charly’s Tante«, erreichte Süden erst nach knapp zwei Stunden. Zu allem Übel folgte er auch noch den Schienen der Straßenbahn in falscher Richtung.
     
    »Du trinkst zu viel.«
    Hauptkommissarin Birgit Hesse rührte in ihrem Cappuccino. Süden sah ihr dabei zu, weil er den Zweck der Übung nicht begriff. Sie hatte keinen Zucker reingetan. Nach ungefähr einer Minute hörte sie auf zu rühren, sah ihn an, zog die Stirn in Falten, schüttelte den Kopf und trank einen Schluck.
    »Nein.« Süden hatte seinen Espresso bereits ausgetrunken. Sie standen am runden Tisch eines zu den Gleisen hin offenen Lokals im Hauptbahnhof, in dessen Nähe sich die Vermisstenstelle befand. In dem Gebäude gegenüber dem Südeingang des Bahnhofs hatte auch Süden früher seinen Schreibtisch, den er allerdings so oft wie möglich für Ermittlungen vor Ort verließ. Obwohl er seine Berichte fehlerfrei schrieb, hatte ihn das ewige Tippen der Protokolle zermürbt. Allein das akribische Ausfüllen der Vermisstenformulare vor jeder neuen Fahndung verlangte ihm einen Zentner Geduld ab. Wenn er nicht draußen oder in den leeren Zimmern der Verschwundenen sein konnte, erschien ihm seine polizeiliche Existenz so verpfuscht wie ein Spatenbier.
    »Du trinkst zu viel«, wiederholte die dreiundfünfzigjährige Kommissarin.
    »Erzähl mir etwas über Ilka Senner.«
    »Außerdem hast du zugenommen.« Ihr Blick wischte über sein weißes, bauchvolles Hemd, seine schwarzen Jeans und noch einmal über sein Gesicht. »Ist dein Rasierapparat kaputt?«
    Süden schwieg.
    »Deine Augen sind gerötet. Du achtest zu wenig auf dich. Wie alt bist eigentlich inzwischen?«
    »Ein Jahr jünger als du.«
    »Woher weißt du, wie alt ich bin?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Sie trank einen Schluck und leckte sich die Lippen.
    »Ich bin zweiundfünfzig«, sagte Süden.
    »Dann hattest du recht.«
    Er hätte sie auf höchstens Mitte vierzig geschätzt. Er wusste nicht, warum er den Satz gesagt hatte, vermutlich war er noch nicht angemessen entbiert.
    »Also, Hellseher.« Birgit Hesse holte einen Zettel aus ihrer grünen Strickjacke, die sie über ihrem beigefarbenen Kleid trug. Der Duft ihres Parfüms versöhnte Süden schon die ganze Zeit mit seiner olfaktorischen Erinnerung an den gestrigen Zigarettenstadl.
    »Hier hab ich ein paar Stichpunkte notiert. Du weißt, die meisten Kollegen sehen das nicht gern, wenn sich Detektive in unsere Arbeit einmischen, erst recht nicht ehemalige Polizisten. Ich bin für jede Unterstützung

Weitere Kostenlose Bücher