Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
Jetzt geht’s los
Neun Uhr abends, an einem Samstag im November. Joni, Tony und ich ziehen durch die Stadt. Tony wohnt im Nachbarort und er braucht dringend mal ein bisschen frische Luft. Seine Eltern sind Religionsfanatiker, wobei völlig unwichtig ist, um welche Religion es sich dabei handelt – ab einem bestimmten Punkt sind sie sich alle gleich. Kaum eine davon sieht es gern, dass ein schwuler Junge sich am Samstagabend mit seinen Freunden in der Stadt herumtreibt. Deshalb füttert uns Tony jede Woche mit Geschichten aus der Bibel, und am Samstag kreuzen wir dann bei ihm zu Hause auf, ausstaffiert mit frommen Sprüchen und ernsten Mienen, und blenden seine Eltern mit unserer strahlenden Unschuld. Sie stecken ihm einen Zwanziger zu und wünschen ihm viel Spaß. Mit uns, seinem Bibel-Lesekreis.
Wir schauen uns für das Geld dann Liebeskomödien im Kino an, kaufen Krimskrams im One-Dollar-Laden oder hören unsere Lieblingslieder in der Jukebox. Unser Glücksgefühl ist dabei so heftig groß, näher können wir einem alle seine Geschöpfe liebenden Gott gar nicht sein. Tonys Eltern, denken wir dann, müssten uns eigentlich gut verstehen, wenn sie nur nicht so falsch gewickelt wären, grundsätzlich ganz viele Dinge misszuverstehen.
Tony muss um Punkt Mitternacht zu Hause sein, deshalb sind wir in Cinderella-Mission unterwegs. Da heißt es, keinen Augenblick zu vergeuden.
In unserer Stadt gibt es nicht wirklich eine Schwulen- oder eine Hetero-Szene. Das hat sich alles schon vor längerer Zeit vermischt und ich finde das gut so. Als ich noch jünger war, mussten die schwulen Jungs entweder nach Big City flüchten, wenn sie sich mal amüsieren wollten, oder selbst für ihren Spaß sorgen. Jetzt hat sich das alles gewandelt. Die meisten Hetero-Jungs hier schleichen sich auch schon mal heimlich in die Queer Beer Bar. Jungs, die Jungs lieben, flirten mit Mädchen, die Mädchen lieben. Und egal, ob dein Herz für Standardtanz oder Bluegrass Punk schlägt, auf der Tanzfläche kann sich jeder austoben, wie er will.
Das ist meine Stadt. Ich habe hier mein ganzes Leben lang gelebt.
Heute spielt Zeke, unser schwuler Rastakumpel, in der Filiale der großen Buchhandelskette im Ort. Joni ist die Einzige, die schon einen Führerschein hat; sie hat ihn in dem Bundesstaat, in dem ihre Großmutter wohnt, gemacht. Deshalb ist sie wie immer der Chauffeur und kutschiert uns im Familienauto herum. Wir machen sämtliche Fenster auf und stellen das Radio auf ganz laut– wir mögen es, wenn unsere Musik unsere ganze Umgebung durchdringt, Teil des Äthers wird. Tony wirkt heute etwas traurig, deshalb darf er wählen. Er wechselt auf einen trübseligen Folk-Sender, und wir fragen ihn, was los ist.
» Ich weiß es nicht«, sagt er, und wir wissen, was er meint. Diese namenlose Leere.
Wir versuchen, ihn aufzuheitern, und laden ihn in unser Lieblings-Diner zu einem Blaubeercocktail ein. Jeder von uns nimmt einen Schluck, und dann vergleichen wir, bei wem die Zunge am blauesten ist. Als Tony zusammen mit Joni und mir die Zunge herausstreckt, wissen wir, dass er wieder okay ist.
Zeke ist schon mittendrin, als wir es schließlich in die Buchhandlung in der Nähe des Highways schaffen. Er hat seine Bühne in der Ecke mit der » Europäischen Geschichte« aufgebaut und streut immer mal wieder Namen wie Hadrian und Kopernikus in seinen Mojo-Rap ein. Der Laden ist gerammelt voll. Ein kleines Mädchen setzt sich seinen Stoffhasen auf die Schultern, damit auch er alles sehen kann. Ihre Mütter stehen hinter ihr, halten Händchen und nicken zu Zekes Rhythmus mit. Die Homo-Rasta-Szene wächst und gedeiht in der » Garten«-Abteilung, während in der » Schönen Literatur« die drei einzigen Hetero-Jungs unserer Lacrosse-Mannschaft einer jungen Buchhändlerin schöne Augen machen. Sie scheint nichts dagegen zu haben. Ihre Brille ist schwarz wie Lakritze.
Ich bewege mich wie ein Fisch im Wasser durch die Menge, grüße nickend, lächle hallo. Ich liebe solche Momente, ihre schwebende Wirklichkeit. Ich bin ein Vogel, der weit spähend über das Land der Boyfriends und Girlfriends gleitet. Ich bin die drei Noten mitten in der Mitte eines Songs.
Joni packt mich und Tony am Ärmel und zieht uns zu » Ratgeber und Selbsthilfe«. Dort drücken sich ein paar mürrisch wirkende Typen herum, darunter auch solche, die mit der Musik offensichtlich nichts am Hut haben und sich lieber auf die » Dreizehn Wege zu Ihrem persönlichen Erfolg« konzentrieren. Ich
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