Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
nicht. Die Arme baumelten an ihr herunter. Der Mantel, den sie gerade noch fest zugehalten hatte, öffnete sich. Und Schilff sah, dass sie einen blassblauen Pullover trug.
»Gefällt Ihnen mein Busen?«, fragte die Frau.
Überrascht schaute er sie an. In ihrem Gesicht war nichts als Traurigkeit.
»Bitte?«
Sie schwieg. Auch dieses Schweigen wirkte auf ihn, als würde alles an ihr trauern.
»Excuse me«, sagte er.
»Nehmen Sie Ihren Koffer da weg«, hörte er die Bedienung rufen. Übergangslos, wie am Flughafen, fuhr er herum. Und war in zwei Schritten bei seinem Koffer. Und hob ihn so heftig hoch, dass die Bedienung zurückwich.
»Verdammt«, sagte Niklas Schilff.
Kaum hatte er sich wieder der Frau im braunen Mantel zugewandt, kippte diese nach vorn. Als wolle sie etwas vom Boden aufheben. Und fiel der Länge nach hin. Im ersten Moment dachte Schilff, sie sei ausgerutscht. Womöglich in einem Rest des verschütteten Wodkas. Doch dann sah er, dass sie Stoffschuhe mit Gummisohlen trug.
Wieder blickten sämtliche Gäste gleichzeitig auf. Niemand tat etwas. Und das war auch nicht notwendig. Bevor Schilff der Frau helfen konnte, schnellte sie in die Höhe. Stieß sich mit kurioser Gewandtheit vom Boden ab. Und hüpfte einmal kurz in die Höhe. Auf ihrem Pullover prangte ein dunkler Fleck. Und der Mantel hing ihr halb von der Schulter.
»Ihr Schweine«, sagte die Frau. Und meinte niemand Bestimmten. Jedenfalls schaute sie keinen der Gäste direkt an. Sie sagte es vor sich hin. In normalem Tonfall.
»Kommen Sie«, sagte Schilff. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie drehte sich weg.
Jetzt atmete sie wieder mit offenem Mund. Und gleich würde sie ihren Mantel verlieren. Schilff traute sich nicht, ihn zurechtzurücken. Was mach ich hier, ich muss hier raus.
»Wo ist meine Brille?«, fragte die Frau plötzlich. Schon krümmte sie sich wieder. Schilff stellte schnell seinen Koffer ab. Und hielt die Frau mit beiden Händen fest.
»Vorsicht.«
Hinter sich hörte er ein Tocken. Er drehte den Kopf. Der asiatische Koch klopfte mit der Sonnenbrille auf den Tresen.
»Danke«, sagte Schilff. Und streckte den Arm aus. Und stützte mit dem anderen die Frau. Er gab ihr die Brille. Und sie setzte sie auf. Mit einem Schulterzucken korrigierte sie den Sitz ihres Mantels, schlang ihn wieder enger um sich. Und öffnete die Glastür, die zur Straße führte.
Schilff zog den Koffer hinter sich her. Erwischte die Tür, bevor sie zuschlug. Und zwängte sich seitwärts nach draußen. Die Frau stieg die Steinstufen zum Bürgersteig hinunter und bedeckte dabei mit beiden Händen ihren Kopf.
Es war kurz vor neunzehn Uhr und dunkel.
Aus Richtung des Taxistands kamen zwei uniformierte Polizisten. Sie bedachten die Frau mit einem gleichgültigen Blick und gingen die Treppe zum Bistro hinauf. Den Koffer neben sich, verharrte Niklas Schilff auf der obersten Stufe, in morastige Überlegungen vertieft.
»Entschuldigung«, sagte einer der Polizisten. Schilff versperrte ihm den Weg.
»Excuse me.« Er trat einen Schritt zur Seite. Die Polizisten gingen hinein. Und er stieg die Stufen hinunter.
Die Frau drehte sich im Kreis.
»Wissen Sie, wo die Rothmundstraße ist?«, fragte sie.
»Nein.«
»Da wohn ich.«
»Ich bring Sie hin.«
»Nein.«
»Wir fahren mit dem Taxi.«
»Nein.«
»Ich heiß Niklas. Niklas Schilff.«
Sie sah ihn an. Zum ersten Mal, seit sie auf der Straße standen. An diesem kalten Novemberabend.
»Jennerfurt.«
»Hallo, Frau Jennerfurt«, sagte er.
Sie hatte die Hände in die Manteltaschen gesteckt und die Schultern hochgezogen. Die Spitzen ihrer Schuhe berührten sich. Die Fersen hatte sie nach außen gedreht. Wie ein Schulmädchen, dachte Schilff.
»Früher waren wir oft in einer Kneipe, die ›Jennerwein‹ hieß«, sagte er. »Ich wollte da nie hin, meine Freunde haben mich mitgeschleppt. Sie waren aber gar nicht meine Freunde.«
»Ich möchte nicht, dass Sie mich in ein Gespräch verwickeln«, sagte sie.
Er war nicht beleidigt. Er hatte ihr nicht einmal richtig zugehört. Dass ihr Name ihn an dieses Lokal erinnert hatte, genügte, um ihn wieder diesen Ekel empfinden zu lassen, der in ihm gärte, seit er das Flugzeug verlassen hatte. Das ganze Trinken, die ganze Ablenkung mit der Frau, die wegen Madonna weinte, das ganze Getschilpe – alles umsonst. Die Täuschung gelang nicht.
Getschilpe. Woher hatte er dieses Wort? Das kenn ich doch gar nicht, gibt’s das in Englisch?
»Oh Gott«, sagte die
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