Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
mit einer Häckselmaschine zu zerkleinern. Es zerbarst in winzige Teile, die nie wieder zusammenpassen, nie wieder einen Sinn ergeben, nie wieder ein Ganzes werden würden. Nämlich sie. Ariane Jennerfurt. Auch Jenny. War doch egal jetzt, wie sie hieß. Jenny. Ariane. Sie empfand zu beiden Namen keine Zugehörigkeit.
Sie fing schon wieder an, sich zu verleugnen. Das durfte sie nicht. Sie musste klar im Kopf werden. Und sich die Wahrheit eingestehen.
»Kann nicht«, sagte sie und legte die Arme auf den Tisch. Sie rieb mit der Stirn über ihre Hände und dachte an einen Mann, den auch Iris kannte und von dem diese niemals glauben würde, dass er es war.
Aber er war es gewesen. Es gab keinen anderen. Niemand anders kam in Frage. Mit niemand außer ihm hatte sie geschlafen. Nur mit ihm. Warum hatte er ihr das angetan?
Er hatte Geburtstag gehabt. Und sie kannten sich schon so lange. Fünfzehn Jahre. Früher hatte er ihr ein paar Mal Geld geliehen. Das war nicht das Wichtige gewesen.
Das Wichtige war, dass er da war, wenn ich allein war, wenn ich gestorben wäre vor Schmerzen und Widerwillen. Da kümmerte er sich um mich und ging in die Apotheke und kaufte Verbandszeug und hörte mir zu. Und er hörte mir zu, auch wenn ich bloß schluchzte und kein vernünftiges Wort rausbrachte. Er blieb über Nacht, er blieb, wann immer ich es wollte. Und er tat nie etwas, das ich nicht wollte. Er pflegte mich und gab mir den Mut zurück. Bei ihm fühlte ich mich in Sicherheit, das war, bevor ich Iris kennenlernte und er aus meinem Leben verschwand, weil er nach Paris zog und dann nach New York und dann nach Berlin. Und seit drei Jahren wohnt er wieder hier. Und wir besuchen ihn alle paar Wochen. Er lebt allein.
Ich wollte ihm eine Freude machen. Und er war zärtlich zu mir, wie lange kein Mann mehr.
Ich glaube, dass es noch lange dauern wird, bis ich Iris die Wahrheit sagen kann. Das wird eine schwere Zeit, denn Iris wird nicht lockerlassen, sie will es wissen und sie hat ein Recht dazu. Vielleicht werde ich zuerst mit Dr. Forster darüber sprechen. Sie weiß, wir waren Blut spenden, weil Iris mal was Gutes tun wollte. Das ist ihr gelungen. Ich weiß jetzt, dass ich krank bin.
Die Infektion wird zu einer chronischen Erkrankung, sagt Dr. Forster. Ich weiß nicht. Auf alle Fälle trifft Dr. Forsters Lieblingssatz auf mich nicht zu: Das größte Infektionsrisiko ist der Glaube an einen treuen Partner.
Ich habe keinen Partner. Ich hatte einen Freund, und der hat mich belogen, an seinem Geburtstag, in seiner Wohnung. Er benutzte einen Gummi. Der ist weggerutscht. Und er hat weitergemacht. Er war nicht mein Partner, er war mein Freund. Und drei oder vier Tage später hatte ich einen Traum, der so fürchterlich war wie noch keiner. Und obwohl mein Freund nicht darin vorkam, wusste ich sofort, dass er mit dem Traum zu tun hatte.
»Diesen Traum hab ich schon zweimal in mein Tagebuch geschrieben, und ich hab noch immer Angst vor ihm«, sagte Ariane. Und die Frauen blieben stumm.
Eigentlich hatte Ariane nicht vorgehabt, darüber zu sprechen. Schon gar nicht vor fremden Menschen.
Vielleicht hatte sie deshalb den Namen Jenny gesagt. Damit sie ihr nicht zu nahe kamen.
Doch dann hatte sie den Eindruck, sie müsse Klara für deren Geschichte etwas schenken. Und so fing sie an.
»Ich lebte auf einem Gutshof, viele Stallungen und Gebäude, alles aus Holz, aus dunklem Holz, das schwarz aussah in der untergehenden Sonne. Ich glaube, es war Abend, und ich sah die Sonne eigentlich gar nicht, nur die Landschaft, die konnte ich durch das große offene Tor sehen. Ich stand in der Mitte des Hofes und da merkte ich, wie die Häuser, die Fassaden immer dunkler wurden, wie bei einer Sonnenfinsternis. Und plötzlich hörte ich ein Schnalzen, wie von einer Peitsche. Erschrocken hab ich mich umgedreht, und da kam ein Pferd auf mich zu, ein Fohlen. Es blutete. Und hinter dem Tier lief der Gutsherr und ließ die Peitsche knallen, er schlug wie wild auf das Fohlen ein, und das Fohlen jaulte, ich hab gedacht, so weint ein Pferd. Und als es in Todesangst an mir vorbeilief, hab ich Tränen in seinen Augen gesehen, ich hab noch nie ein Tier weinen sehen, es war ein furchtbarer Anblick. Und der Gutsherr schlug weiter zu, immer fester, und dann raschelte etwas, und ich sah einen Pfau, der ein Rad schlug, und der Gutsherr hieb mit seiner Peitsche das Rad entzwei. Da schrie der Pfau laut auf, ein hoher, grässlicher Ton, den ich nie vergessen werde. Und immer
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