Todesregen
1
Wenige Minuten nach ein Uhr morgens fiel unerwartet starker Regen. Kein Donner ging der Sintflut voraus und kein Wind.
So jäh und so heftig war der Guss, dass er sich ins Bewusstsein drängte wie das unheilvolle Unwetter in einem Traum.
Schon bevor die Wolken aufgeplatzt waren, hatte Molly Sloan ruhelos neben ihrem Mann im Bett gelegen. Nun wurde sie immer noch nervöser, während sie dem herabrauschenden Regen lauschte.
Die unzähligen Stimmen des Wolkenbruchs klangen wie eine wütende Menschenmenge, die in einer vergessenen Sprache Parolen brüllt. Die Wassermassen hämmerten an die Zedernverschalung und die Dachschindeln, als wollten sie sich Eingang verschaffen.
Bisher war der September in Südkalifornien immer ein trockener Monat inmitten einer langen Dürrezeit gewesen. Zwischen März und Dezember fiel nur selten Regen.
In den feuchten Monaten war das Trommeln der Regentropfen auf dem Dach manchmal ein wirksames Heilmittel gegen Schlaflosigkeit. Heute Nacht aber wiegten die flüssigen Rhythmen Molly nicht in den Schlaf, und zwar nicht nur, weil sie nicht zur Jahreszeit passten.
Enttäuschter Ehrgeiz hatte Molly in den letzten Jahren schon oft den Schlaf geraubt. Vom Sandmann im Stich gelassen, hatte sie an die dunkle Zimmerdecke gestarrt, darüber nachgegrübelt, was hätte sein können, und sich nach etwas gesehnt, was vielleicht nie kommen würde.
Sie war nun achtundzwanzig Jahre alt und hatte vier Romane veröffentlicht. Alle waren von der Kritik günstig aufgenommen worden, aber keiner hatte sich oft genug verkauft, um sie berühmt zu machen oder wenigstens zu garantieren, dass irgendein Verleger ungeduldig auf ihr nächstes Buch wartete.
Ihre Mutter Thalia, die brillante Prosa geschrieben hatte, war mit dreißig an Krebs gestorben. Zu Lebzeiten hatte man ihr eine große Karriere vorhergesagt, aber nun, sechzehn Jahre später, waren ihre Bücher vergriffen, und die Spuren, die sie auf der Welt hinterlassen hatte, waren so gut wie verschwunden.
Molly lebte mit der nagenden Angst, sie könne in Vergessenheit geraten wie ihre Mutter. Sie fürchtete den Tod nicht besonders; es war die Vorstellung, zu sterben, bevor sie eine bleibende Leistung vollbracht hatte, die ihr Sorgen machte.
Neben ihr schlief ihr Mann Neil, leise schnarchend und ohne das Unwetter wahrzunehmen.
Sobald er den Kopf aufs Kissen gelegt und die Augen geschlossen hatte, schlief er immer innerhalb einer Minute ein. In der Nacht bewegte er sich kaum; nach acht Stunden wachte er in derselben Körperhaltung auf, in der er eingeschlafen war, gestärkt und ausgeruht.
Neil behauptete, nur die Unschuldigen erfreuten sich eines so vollkommenen Schlafs.
Molly sprach vom Schlaf eines Faulenzers.
In ihren sieben Ehejahren hatten die beiden ihr Leben stets nach unterschiedlichen Uhren gerichtet.
Molly hielt sich genauso gern in der Zukunft auf wie in der Gegenwart. Sie malte sich aus, wo sie hinwollte, und plante unablässig den Weg, der sie zu ihren hohen Zielen führen sollte. Ihre starke Triebfeder war fest gespannt.
Neil hingegen lebte im Augenblick. Für ihn lag schon die nächste Woche in ferner Zukunft, und er vertraute darauf,
dass die Zeit ihn dorthin bringen würde, egal, ob er die Reise nun plante oder nicht.
Die beiden waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht.
Angesichts ihres gegensätzlichen Wesens war die Liebe, die sie füreinander empfanden, ganz erstaunlich. Sie war das Band, das sie vereinte, das feste Netz, das ihnen die Kraft verlieh, Enttäuschungen und Tragödien zu überstehen.
Wenn Molly an Schlaflosigkeit litt, stellte Neils rhythmisches, wenn auch nicht sehr lautes Schnarchen diese Liebe fast so sehr auf die Probe wie ein Seitensprung. Nun übertönte der prasselnde Regen dieses Geräusch, sodass Molly ein neues Ziel für ihre nervöse Ungeduld hatte.
Das Tosen des Unwetters nahm zu, bis Molly sich wie im Innern der grollenden Maschinerie fühlte, die das Universum in Gang hält.
Kurz nach zwei stieg sie aus dem Bett, ohne das Licht anzuknipsen. Am Fenster, das durch das überstehende Dach vor dem Regen geschützt war, blickte sie durch ihr gespenstisches Spiegelbild hindurch in den windlosen Wolkenbruch.
Das Haus stand hoch in den San Bernardino Mountains, umgeben von Zucker- und Höckerkiefern und von gewaltigen Gelbkiefern mit dramatisch aufgerissener Rinde.
Die meisten Nachbarn lagen zu dieser Stunde im Bett. Durch die Bäume und den unablässig strömenden Regen hindurch funkelten nur an einer
Weitere Kostenlose Bücher