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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Oktober, doch in Hakone waren die Nächte bereits ziemlich kühl. Als wir im Wochenendhaus ankamen, schaltete ich alle Lichter und den Gasofen im Wohnzimmer ein. Ich nahm eine Flasche Brandy und zwei Gläser aus dem Schrank. Als sich der Raum erwärmt hatte, setzten wir uns wie früher nebeneinander auf das Sofa, und ich legte die Nat-King-Cole-Platte auf. Die rote Glut im Ofen spiegelte sich in unseren Brandygläsern. Shimamoto saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa. Einen Arm hatte sie auf die Lehne gestützt, der andere ruhte in ihrem Schoß. Wie früher. Damals hatte sie wohl ihr Bein verstecken wollen. Anscheinend hatte sie diese Gewohnheit auch nach ihrer Operation beibehalten. Nat King Cole sang »South of the Border«. Ich hatte das Stück wirklich sehr lange nicht gehört.
    »Als Kind habe ich mich immer gefragt, was eigentlich südlich der Grenze sein soll«, sagte ich.
    »Ich auch«, sagte Shimamoto. »Als ich erwachsen war und den englischen Text lesen konnte, war ich ziemlich enttäuscht, dass es bloß um Mexiko ging. Ich hatte mir etwas viel Bedeutsameres vorgestellt.«
    »Was denn zum Beispiel?«
    Shimamoto strich ihr Haar mit beiden Händen zu einem losen Bund nach hinten. »Ich weiß nicht. Etwas Schönes, Großes, Weiches.«
    »Etwas Schönes, Großes, Weiches?«, sagte ich. »Etwas Essbares vielleicht?«
    Shimamoto lachte. Ich konnte ihre weißen Zähne sehen. »Ich glaube nicht.«
    »Etwas, was man anfassen kann?«
    »Wahrscheinlich.«
    »Ich finde, das Wort wahrscheinlich kommt bei dir entschieden zu oft vor«, sagte ich.
    »Dies ist das Reich der Wahrscheinlichkeiten«, sagte sie.
    Ich streckte die Hand aus und berührte Shimamotos Finger, die auf der Lehne ruhten. Es war lange her, dass ich sie berührt hatte. Das letzte Mal war auf dem Rückflug von Ishikawa nach Tokio gewesen. Als ich ihre Finger berührte, hob sie den Blick und sah mich an. Dann schaute sie wieder nach unten.
    »Südlich der Grenze, westlich der Sonne«, sagte sie.
    »Westlich der Sonne? Was heißt das?«
    »Ja, das gibt es«, sagte sie. »Hast du schon einmal von einer Erkrankung namens Hysteria sibiriana gehört?«
    »Nein.«
    »Ich habe früher einmal etwas darüber gelesen. Ich glaube, in der Schule. In was für einem Buch weiß ich nicht mehr. Jedenfalls ging es um eine Krankheit, die die Bauern in Sibirien befallen kann. Stell dir vor, du bist Bauer und lebst allein in der sibirischen Einöde. Tagein, tagaus bestellst du deine Felder. Um dich herum ist nur leere Landschaft, soweit das Auge reicht. Im Norden nichts als der Horizont, im Osten nichts als der Horizont, im Süden nichts als der Horizont und im Westen genauso. Jeden Morgen, wenn im Osten die Sonne aufgeht, ziehst du hinaus aufs Feld und arbeitest. Steht sie im Zenit, lässt du die Arbeit ruhen und isst zu Mittag, und wenn sie im Westen versinkt, gehst du nach Hause und schläfst.«
    »Nicht gerade der Lebensstil eines Barbesitzers in Aoyama.«
    »Nein, wirklich nicht.« Sie lächelte und neigte leicht den Kopf. »Und so geht das Jahr für Jahr.«
    »Aber in Sibirien kann man im Winter nicht auf dem Feld arbeiten.«
    »Im Winter ist natürlich Pause«, sagte Shimamoto. »Im Winter bleiben die Leute zu Hause und erledigen häusliche Arbeiten. Erst im Frühling gehen sie wieder aufs Feld. Stell dir also vor, du wärst so ein Bauer.«
    »Gut, mache ich«, sagte ich.
    »Und eines Tages stirbt etwas in dir.«
    »Stirbt? Was denn?«
    Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Irgendetwas. Während du Tag für Tag immer wieder siehst, wie die Sonne im Osten aufgeht, über den Himmel wandert und im Westen versinkt, zerbricht irgendwann etwas in dir und stirbt. Du lässt deinen Pflug in der Erde und wendest dich, ohne etwas zu denken, gen Westen. Auf etwas zu, das westlich der Sonne liegt. Wie besessen wanderst du tagelang weiter, ohne zu essen oder zu trinken, bis du zusammenbrichst und stirbst. Das nennt man Hysteria sibiriana.«
    Ich versuchte, mir einen tot am Boden liegenden sibirischen Bauern vorzustellen.
    »Und was ist dort, westlich der Sonne?«, fragte ich.
    Sie zuckte wieder die Schultern. »Ich weiß es doch nicht. Vielleicht nichts. Oder doch etwas. Jedenfalls etwas anderes als südlich der Grenze.«
    Als Nat King Cole »Pretend« sang, sang Shimamoto leise mit, wie sie es früher oft getan hatte.
    Pretend you’re happy when you’re blue
    It isn’t very hard to do
    »Weißt du, Shimamoto«, sagte ich. »Als du fort warst, habe ich die ganze

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