Südlich der Grenze, westlich der Sonne
dabei ihre Strumpfbandschnalle verloren hatte. Auch wenn ein Mensch sich in zwanzig Jahren verändert, gab es keinen Zweifel daran, dass sie es war. »Die Kinder fürchten sich vor ihr«, hatte mein Klassenkamerad gesagt. Damals hatte ich nicht verstanden, was er meinte. Ich hatte nicht begriffen, was diese Worte vermitteln sollten. Doch jetzt, da ich Izumi vor mir sah, verstand ich sofort, was er mir hatte sagen wollen. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Nein, das war nicht präzise ausgedrückt. Vielleicht sollte ich lieber sagen, aus ihrem Gesicht war restlos alles verschwunden, was die Bezeichnung »Ausdruck« verdient hätte. Es erinnerte mich an eine Wohnung, aus der man auch noch das letzte Möbelstück herausgeräumt hatte. Es war nicht einmal das kleinste Fragment eines Gefühls darin zu entdecken. Wie auf dem tiefsten Meeresgrund war alles still und abgestorben. Und mit diesem völlig ausdruckslosen Gesicht starrte sie mich an. Oder ich vermute, dass sie mich anstarrte. Zumindest richtete sie ihre Augen direkt auf mich. Aber ihr Gesicht sprach nicht. Wenn dieser Blick etwas vermittelte, war es grenzenlose Leere.
Ich stand da wie vom Donner gerührt, sprachlos. Mühsam hielt ich mich aufrecht und atmete langsam ein und aus. Damals verlor ich mich buchstäblich selbst aus den Augen. In diesem Moment wusste ich nicht einmal mehr, wer ich war. Es kam mir vor, als lösten meine Umrisse sich auf und ich verwandelte mich in eine zähe Flüssigkeit. Ohne nachzudenken und fast unbewusst streckte ich meine Hand aus und strich sacht mit den Fingerspitzen über die Scheibe. Was das bedeuten sollte, wusste ich nicht. Einige Passanten blieben stehen und beobachteten mich erschrocken. Doch ich konnte nicht aufhören. Immer wieder streichelte ich Izumis gesichtsloses Gesicht durch das Glas. Sie zeigte keinerlei Regung. Sie blinzelte nicht einmal. Ob sie tot war? Nein, das konnte nicht sein. Sie war am Leben, auch wenn sie nicht einmal blinzelte. Sie lebte in der stummen Welt hinter der Glasscheibe. Ihre reglosen Lippen sprachen vom grenzenlosen Nichts.
Irgendwann wurde die Ampel grün, und das Taxi fuhr weiter. Izumis Gesicht war bis zum Schluss ausdruckslos geblieben. Ich stand wie erstarrt und sah zu, wie das Taxi im Strom des Verkehrs verschwand.
Ich ging zu meinem Wagen zurück und ließ mich in den Sitz fallen. Ich muss hier weg, dachte ich. Als ich den Motor anlassen wollte, wurde mir übel. Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen, aber ich würgte nur. Die Arme auf das Lenkrad gelegt, blieb ich etwa fünfzehn Minuten still sitzen. Der Schweiß lief mir unter den Achseln hervor, und mein gesamter Körper verströmte einen widerlichen Geruch. Das war nicht der Körper, den Shimamoto so sanft liebkost hatte. Es war der übel riechende Leib eines nicht mehr jungen Mannes.
Nach einer Weile kam ein Verkehrspolizist und klopfte an die Scheibe. Ich kurbelte das Fenster herunter. »Sie stehen im Parkverbot«, sagte er und spähte in den Wagen. »Fahren Sie weiter.« Ich nickte und ließ den Motor an.
»Sie sind ja ganz weiß. Ist Ihnen schlecht?«, fragte der Polizist.
Ich schüttelte stumm den Kopf und fuhr davon. Es dauerte mehrere Stunden, bis ich mich erholte. Ich war nur noch eine leere Hülle, und ein dumpfes Dröhnen hallte durch meinen Körper. Ich fühlte mich völlig ausgehöhlt. Alles, was bis vor Kurzem noch in mir gewesen war, war verschwunden. Ich parkte am Friedhof Aoyama und starrte geistesabwesend durch die Windschutzscheibe. Ich glaubte, dass Izumi dort auf mich wartete. Wahrscheinlich hatte sie immer irgendwo auf mich gewartet. In irgendeinem Winkel der Stadt, hinter irgendeiner Glasscheibe auf mich gewartet. Die ganze Zeit über hatte sie mich beobachtet. Ich hatte es nur nicht bemerkt.
Noch Tage später konnte ich mit niemandem sprechen. Sobald ich den Mund öffnete, um etwas zu sagen, waren die Worte plötzlich verschwunden. Als hätte Izumis absolutes Nichts auch mich durchdrungen.
Dennoch schienen nach meiner seltsamen Begegnung mit Izumi die Visionen von Shimamoto und ihre Stimme in meinem Ohr allmählich schwächer zu werden. Meine Welt gewann etwas von ihrer Farbe zurück, und auch die Verlorenheit, die mir das Gefühl gab, auf der Oberfläche des Mondes umherzuirren, ließ nach. Ich spürte eine vage Verschiebung der Schwerkraft, so als würde ich durch eine Glasscheibe beobachten, was ein anderer erlebte. Zugleich spürte ich, dass etwas, das an mir gehaftet hatte, langsam
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