Südlich der Grenze, westlich der Sonne
dem Sofa lag. »Wie wundervoll wäre es, mit dir irgendwo noch einmal ganz von vorn anzufangen. Aber leider kann ich diesen Ort nicht verlassen. Es ist physisch unmöglich.«
Dann war Shimamoto ein sechzehnjähriges Mädchen, das mit scheuem Lächeln vor den Sonnenblumen in einem Garten stand. »Letzten Endes hätte ich nicht kommen sollen. Ich wusste es von Anfang an. Ich habe geahnt, dass es so enden würde. Aber ich konnte nicht anders. Ich musste dich sehen. Und als ich dich sah, musste ich dich ansprechen. So bin ich eben, Hajime. Auch wenn ich es nicht will, mache ich am Ende immer alles kaputt.«
Ich würde Shimamoto niemals wiedersehen. Sie existierte nur noch in meiner Erinnerung. Sie war aus meinem Leben verschwunden. Sie war bei mir gewesen, und jetzt war sie fort. Wo nichts Mittleres existierte, gab es auch keinen Mittelweg. Südlich der Grenze mochte es noch ein Wahrscheinlich geben. Aber westlich der Sonne gewiss nicht.
Tag für Tag durchforstete ich die Zeitungen nach einem Artikel über eine Frau, die Selbstmord begangen hatte. Aber ich wurde nicht fündig. Täglich entschieden sich Menschen für den Freitod, doch sie war nie dabei. Die schöne siebenunddreißigjährige Frau mit dem bezaubernden Lächeln war, nach allem, was ich wusste, noch am Leben. Ich hatte sie nur für immer verloren.
Nach außen hin verlief mein Alltag so gut wie unverändert. Ich brachte die Mädchen in den Kindergarten und holte sie wieder ab. Im Auto sang ich mit ihnen. Manchmal plauderte ich vor dem Kindergarten mit der jungen Frau im Mercedes 260 E. Diese Gespräche schenkten mir einige kurze Momente des Vergessens. Wie üblich unterhielten wir uns nur über Essen und Mode. Jedes Mal, wenn wir uns begegneten, tauschten wir eifrig Informationen über Aoyama und Bio-Lebensmittel aus.
Auch meinen beruflichen Verpflichtungen kam ich nach, so gut ich konnte. Jeden Abend ging ich in Anzug und Krawatte in die Bars, plauderte mit den Stammgästen, hörte mir die Vorschläge und Beschwerden der Angestellten an und besorgte Geburtstagsgeschenke für die Barmädchen. Ich gab meinen Musikern Drinks aus und probierte Cocktails. Ich achtete stets darauf, dass das Klavier gestimmt war und niemand von angetrunkenen Gästen belästigt wurde. Ich beseitigte jedes Problem im Handumdrehen. Ich führte meine Geschäfte fast zu gut. Alles lief wie am Schnürchen. Dennoch fehlte es mir an Enthusiasmus. Ich brachte einfach nicht mehr dieselbe Begeisterung wie früher für meine beiden Lokale auf. Außenstehenden fiel das vermutlich gar nicht auf, denn ich verhielt mich wie immer. Nein, womöglich wirkte ich sogar liebenswürdiger, zuvorkommender und gesprächiger als zuvor. Aber mir selbst konnte ich nichts vormachen. Wenn ich auf meinem Hocker an der Bar saß und mich umschaute, erschien mir alles farblos und öde. Was ich sah, waren nicht mehr meine Gärten aus Luft mit ihren klaren, frischen Farben, sondern nur noch laute Kneipen, wie man sie überall findet. Alles wirkte aufgesetzt, fadenscheinig und schäbig. Das Ganze war nicht mehr als eine Kulisse, geschaffen zu dem Zweck, Trunkenbolden das Geld aus der Tasche zu ziehen. Sämtliche Illusionen waren aus meinem Kopf verschwunden. Denn Shimamoto würde nicht zurückkehren. Nie wieder würde sie hereinkommen, sich an die Bar setzen und mit ihrem lieblichen Lächeln einen Cocktail bestellen.
Auch mein Familienleben schien sich kaum von früher zu unterscheiden. Wir nahmen unsere Mahlzeiten gemeinsam ein, und sonntags ging ich mit den Kindern spazieren oder in den Zoo. Auch Yukiko verhielt sich zumindest nach außen hin wie früher. Wie immer redeten wir viel miteinander. Im Grunde lebten wir wie alte Freunde, die zufällig unter einem Dach wohnten. Zwischen uns standen viele unausgesprochene Worte und Dinge im Raum, an die wir nicht rührten. Dennoch herrschte keine gereizte Atmosphäre. Nur berührten wir einander nicht mehr. Wir schliefen weiterhin getrennt, ich auf dem Sofa im Wohnzimmer, Yukiko im Schlafzimmer. Das war wahrscheinlich die einzige sichtbare Veränderung in unserem Familienleben.
Mitunter fragte ich mich, ob am Ende nicht alles nur ein Theaterstück war. Ob nicht jeder von uns seine ihm zugeteilte Rolle spielte? Ob wir deshalb so routiniert weitermachen konnten, obwohl uns etwas Wesentliches abhandengekommen war? Diese Vorstellung machte mich unglücklich. Dieses hohle, aufgesetzte Leben musste sehr schmerzlich für Yukiko sein. Aber ich konnte ihr noch immer keine
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