Südlich der Grenze, westlich der Sonne
sowieso loswerden wollen. Diese Mühe blieb mir nun erspart.
Doch als ich mir eingestand, dass der Umschlag tatsächlich verschwunden war, wechselten in meinem Bewusstsein seine An- und Abwesenheit die Plätze. Genauso schnell ging mir der Sinn für die Wirklichkeit verloren, der an die Existenz des Umschlags gekoppelt gewesen war. Es war ein seltsames Gefühl, das Ähnlichkeit mit einem Schwindelanfall hatte. Ganz gleich, was ich mir sagte, in mir wuchs allmählich die Überzeugung, dass der Umschlag gar nicht existiert hatte. Heftig attackierte sie meinen Verstand, zermalmte meine Gewissheit, dass es den Umschlag gegeben hatte, und verschlang sie gierig.
Vielleicht brauchen wir immer einen konkreten Beweis, dass etwas Bestimmtes sich wirklich ereignet hat, weil unser Gedächtnis und unsere Wahrnehmung zu unzuverlässig und oberflächlich sind und zu vielen Einflüssen unterliegen. In den meisten Fällen ist es fast unmöglich zu unterscheiden, in welchem Maße das, was wir als Fakten anerkennen, auch Fakten sind, und ab welchem Punkt wir sie nur für solche halten. Um unsere Wirklichkeit als wirklich zu verankern, benötigen wir eine weitere relative – eine verwandte – Wirklichkeit. Doch auch diese verwandte Wirklichkeit braucht wiederum eine konkrete Basis, um ihre Realität zu beweisen. Diese Kette setzt sich in unserem Bewusstsein bis ins Unendliche fort, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass wir uns durch den Erhalt dieser Kette immer wieder bestätigen, dass wir existieren. Doch die Kette kann jeden Moment reißen, und dann wissen wir plötzlich weder ein noch aus. Wo befindet sich die Wirklichkeit? Auf dieser Seite der Bruchstelle oder doch auf der anderen?
Genau dieses Gefühl, völlig in der Luft zu hängen, hatte ich in jenem Moment. Ich schloss die Schublade und versuchte das Ganze zu vergessen. Ich hätte das Geld gleich zu Anfang fortwerfen sollen. Es aufzubewahren, war von vornherein ein Fehler gewesen.
Als ich am Mittwochnachmittag derselben Woche mit dem Wagen die Gaien-higashi-dori entlangfuhr, entdeckte ich eine Frau, die von hinten genau wie Shimamoto aussah. Sie trug einen beigefarbenen Regenmantel, eine blaue Baumwollhose und weiße Segeltuchschuhe. Und sie zog das eine Bein nach. Bei diesem Anblick schien alles um mich herum zu Eis erstarren. Ein Klumpen Luft drängte sich aus meiner Brust die Kehle hinauf. Shimamoto , dachte ich. Ich überholte sie, um im Rückspiegel ihr Gesicht sehen zu können, aber es war durch andere Passanten verdeckt. Ich trat auf die Bremse, und lautes Hupen ertönte hinter mir. Die Frau hatte genau die gleiche Haltung wie Shimamoto, und auch ihre Haare hatten die gleiche Länge. Am liebsten hätte ich auf der Stelle angehalten, aber soweit ich sehen konnte, waren sämtliche Parkplätze an der Straße besetzt. Etwa zweihundert Meter weiter entdeckte ich eine winzige Lücke, quetschte mich hinein und rannte zurück. Doch von der Frau war nichts mehr zu sehen. Verzweifelt suchte ich die ganze Gegend ab. Sie hinkte, also konnte sie nicht weit gekommen sein. Ich stieß Passanten beiseite, rannte quer über die Straße, erklomm eine Fußgängerbrücke und starrte von oben in die Gesichter der Leute. Mein Hemd war schweißgetränkt. Irgendwann fiel mir ein, dass die Frau, die ich gesehen hatte, ja gar nicht Shimamoto gewesen sein konnte. Sie hatte das falsche Bein nachgezogen. Außerdem hinkte Shimamoto ja gar nicht mehr.
Ich schüttelte den Kopf und seufzte tief. Anscheinend war ich wirklich nicht mehr ganz bei Trost. Mir war schwindlig, und binnen Kurzem war alle Kraft aus meinem Körper gewichen. Ich lehnte mich an eine Ampel und schaute eine Weile zu Boden. Die Ampel schaltete von Grün auf Rot und wieder auf Grün. Leute überquerten die Straße, warteten an der Ampel und überquerten wieder die Straße. Während der ganzen Zeit stand ich, nach Atem ringend, gegen die Ampel gelehnt.
Als ich aufblickte, schaute ich plötzlich in Izumis Gesicht. Sie saß im Fond eines Taxis direkt vor mir und starrte mich durch das Fenster an. Es stand an der Ampel, und unsere Gesichter waren kaum einen Meter voneinander entfernt. Sie war nicht mehr das siebzehnjährige Mädchen, aber ich erkannte sie auf den ersten Blick. Es konnte niemand anderes sein als sie. Dort saß das Mädchen, das ich vor zwanzig Jahren in meinen Armen gehalten hatte. Mit dem ich den ersten Kuss getauscht hatte. Das sich an jenem Nachmittag im Herbst, als sie siebzehn gewesen war, ausgezogen und
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