Beherrscher der Zeit
1.
Nein, sie hatte nicht den Mut dazu. Die Nacht war kalt, lähmend, schien ihr wie ein lebendes Wesen, das sich erdrückend um sie wand. Der breite, schwarze Fluß gurgelte hier am Ufer bösartig zu ihren Füßen, als ob er jetzt, da sie sich anders entschlossen hatte, nach ihr gierte.
Ihr Fuß glitt auf der nassen Böschung aus. Eine plötzliche Furcht raubte ihr jeglichen klaren Gedanken – griff nicht etwas aus der Finsternis nach ihr? Versuchte, sie mit aller Gewalt ins Wasser zu ziehen, sie zu ertränken?
Keuchend kämpfte sie sich, mehr rutschend als gehend, den Hang hoch und ließ sich kraftlos auf die nächste Parkbank fallen. Sie war wütend über sich selbst, verärgert über diese dumme, grundlose Angst.
Eine Weile saß sie reglos. Als sie Schritte hörte, beobachtete sie stumpf den hageren hochgewachsenen Mann, der eben unter einem der Parklichter vorbeikam. So benommen war sie noch, daß sie sich nicht einmal wunderte, als er zielbewußt geradewegs auf sie zuschritt.
Das grelle gelbliche Licht warf seinen seltsam verformten Schatten direkt über sie. Er blieb vor ihr stehen und sagte etwas. Seine Stimme wirkte eine Spur fremdartig, aber sie war wohlklingend und kultiviert.
Norma verstand ihn erst, als er zum zweitenmal fragte:
»Sind Sie an der guten Sache Kaloniens interessiert?«
Sie starrte ihn nur an. Immer noch schien ihr Verstand wie betäubt. Aber plötzlich begann sie zu lachen. Es war schrecklich, ja ganz wahnsinnig komisch. Sie saß hier auf der Parkbank und bemühte sich, allen Mut zu einem zweiten Versuch in diesem tödlichen Wasser zusammenzunehmen, und da kam so ein seltsamer Heiliger daher und ...
»Sie geben sich Illusionen hin, Miß Matheson«, fuhr der Mann kühl fort. »Sie sind nicht der Typ, der Selbstmord begeht.«
»Und auch nicht der Typ, der sich von Fremden ansprechen läßt!« erwiderte sie rein automatisch. »Verschwinden Sie, ehe ich ...«
Mit einemmal wurde ihr bewußt, daß der Kerl sie beim Namen genannt hatte. Sie blickte scharf zu dem dunklen Flecken hoch, der sein Gesicht war. Gegen den Hintergrund des fernen Parklichts nickte sein Kopf, als beantworte er die Frage, die ihre Gedanken erfüllte.
»Ja, ich kenne Ihren Namen. Und ich kenne auch Ihre Geschichte und Ihre Ängste.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich will damit sagen, daß heute abend ein junger Wissenschaftler namens Garson in der Stadt ankam, um eine Vortragsreihe zu halten. Vor zehn Jahren, als Sie und er an der gleichen Universität promovierten, hielt er um Ihre Hand an. Aber Ihnen ging die Karriere vor. Und jetzt haben Sie Angst, Sie könnten sich in Ihrer Verzweiflung an ihn um Hilfe wenden.«
»Seien Sie still!«
Der Mann schien sie zu beobachten, während sie heftig atmend auf der Bank saß. Schließlich sagte er ruhig:
»Ich glaube, ich habe bewiesen, daß ich kein zufälliger Schürzenjäger bin.«
»Welche anderen Arten von Schürzenjägern gibt es denn sonst noch?« fragte Norma wieder stumpf. Aber sie machte keine Einwände, als er sich am entgegengesetzten Ende der Bank niederließ. Sein Rücken war immer noch dem Licht zugewandt, seine Züge von der Dunkelheit verhüllt.
Seine Stimme klang amüsiert. »Ah, Sie haben Humor – trotz Ihrer Bitterkeit. Das ist schon ein gutes Zeichen. Es könnte vielleicht bedeuten, daß Sie bereit sind, anzunehmen, es wäre möglicherweise doch noch nicht alles verloren, wenn jemand sein Interesse an Ihnen zeigt.« Norma murmelte stumpf: »Wer mit den Grundbegriffen der Psychologie vertraut ist, den verfolgen sie, selbst wenn der Himmel über einem einstürzt. Alles, was ich in den vergangenen zehn Jahren getan habe ...«
Sie hielt inne. Dann seufzte sie tief.
»Sie sind sehr geschickt. Ohne mehr als mein instinktives Mißtrauen zu erwecken, ist es Ihnen gelungen, ein Gespräch mit einer hysterischen Frau anzubahnen. Was bezwecken Sie eigentlich damit?«
»Ich möchte Ihnen einen Job anbieten.« Normas Lachen klang so schrill in ihren eigenen Ohren, daß sie erschrocken dachte: ich bin tatsächlich hysterisch!
Laut sagte sie: »Ein Luxusapartment, kostbaren Schmuck, einen teuren Wagen, der nur mir zur Verfügung steht. Wollen Sie mir das bieten?«
Seine Antwort klang ausgesprochen kühl.
»Nein. Um ehrlich zu sein, dafür sind Sie nicht attraktiv genug. Zu kantig, sowohl geistig als auch körperlich. Auch das machte Ihnen in den letzten zehn Jahren zu schaffen – eine fortschreitende Introversion, die bedauerlicherweise
Weitere Kostenlose Bücher