Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
LEHBT !« Wendy überläuft es kalt; das Säuseln des Windes kommt ihr vor wie ein Geraune von Stimmen.
Peters Schritte hallen durch die Kolonnaden. Das Pult, von dem der Reverend gepredigt hat, steht noch; mit rostigem Auge blickt Christus von der Wand herab. Gemeinsam treten Wendy und Peter durch die Tür in die Haupthalle. Von der doppelläufigen Treppe zu den Zellen sind nur noch ein paar Stufen übrig, die ins Nichts führen. Peter hebt den Kopf zu dem schadhaften Dach; durch die Lücken leuchtet der Himmel. Ein riesiges Wespennest hängt im offenen Dachstuhl, und überall wimmelt es von Insekten, die immer zahlreicher ausschwärmen, sehr lebendig und zornig. Peter spürt den Druck von Wendys Fingern um seinen Arm. Sie zieht ihn weiter.
Das ehemalige Refektorium liegt fast im Dunkeln. Durch das geborstene Fenster ist die Vegetation eingedrungen und hat sich der Tische und Stühle bemächtigt, ein giftiger Geruch erfüllt den Saal. An einer Wand liegt eine Reihe unendlich schmutziger Matratzen, dazwischen gebrauchte Kondome und leere Bierflaschen mit Kippen darin. Wendy drückt sich fester an Peter. Sie hat auf einmal das Gefühl, dass das alte Haus wieder zum Leben erwacht, dass etwas Bösartiges die Eindringlinge beobachtet. Sie fühlt sich von durchsichtigen Gestalten gestreift. Schon meint sie, gedämpfte Stimmfetzen zu hören, ein fernes Klappern von Tellern und Besteck. In ihrer Fantasie schwillt es bald an und flüstert mit dem Wind. Wendy schlägt die Hände vors Gesicht. Fest an sich gedrückt, zieht Peter sie weiter. Sie lässt sich mit geschlossenen Augen von ihm führen.
Ein grünlicher Bewuchs aus Algen und Moos hat sich über die Duschräume gebreitet. In den aufgeplatzten Rohren wimmelt es von Ratten. Irgendwo tropft es. Wendy klammert sich an Peter. Sie hört Gemurmel, das Rauschen von Wasser, fernes Gelächter. Und sie nimmt Gerüche wahr – nach Seife, nach Verwesung. Die Luftfeuchtigkeit lässt wieder nach: Sie sind im ehemaligen Zellentrakt angelangt. Peters Blick schweift über die betonierten Gänge und die Zellen, vor denen die Gitter für immer geschlossen sind. Auch er beginnt, Gestalten im Halbdunkel wahrzunehmen. Durchscheinende Arme recken sich durch die Stäbe, Gesichter drücken sich daran. Ein bläulicher Widerschein breitet sich aus, und die Stimmen der Fernsehprediger erfüllen die Stille. Nach und nach flackern Neonlichter auf, die Wände wirken wieder getüncht. Ein Stück weiter, in der Zelle, die sich Peter mit den anderen geteilt hat, bewegen sich Gestalten. Ihre Gesichter sieht er nicht, nur die Augen. Und sie lächeln. Sie rufen ihn. Ein Luftzug fegt einen Blätterwirbel vor sich her.
»Wollen wir jetzt wieder gehen, bitte?«
Der Klang von Wendys Stimme reißt Peter zurück. Es kommt ihm vor, als verjüngte sie sich. Er küsst sie aufs Haar. Während sie sich argwöhnisch umsehen, verlassen sie rückwärts den Zellentrakt. Die Lichter verlöschen. Der Blätterwirbel legt sich.
Die schwere Tür, die zum Karzer führt, steht noch halb offen. Peter stößt sie ein Stück auf und zerreißt dabei Lianen von Spinnweben, die den Eingang verhängen. Modergeruch steigt aus der Tiefe. Er lauscht. Tief unten vernimmt er Stimmengemurmel. Hand in Hand steigen sie die Stufen hinab. Knarrend schließt sich hinter ihnen die Tür.
130
Als Wendy die Augen aufschlägt, ist es so finster, dass sie ihre Hand vor dem Gesicht nicht sieht. Vorsichtig befühlt sie die hässliche Schnittwunde, die sich über ihre Wange zieht. An den Rändern ist das Blut schon getrocknet. Sie ist fünfzehn. Sie ist verliebt. Das spürt sie an dieser kleinen Flamme, die tief in ihrem Bauch brennt. Sie sitzt ganz allein in ihrem Verlies, und es graust ihr vor den Tieren, von denen es hier unten wimmelt. Aber sie hat keine Angst: Die Verlorenen Jungs verständigen sich nicht nur durch die Lüftungsrohre, sondern machen auch ständig Geräusche, um sich gegenseitig zu unterstützen. Seit Stunden wechseln sie sich ab: Wenn einer einschläft, übernimmt gleich ein anderer. Ezzie atmet absichtlich so laut. Howard pfeift eine Country-Melodie. Marcellus reibt seine Füße am Boden, und Peter knackt mit den Fingergelenken. Wendy zieht die Nase kraus, legt den Kopf in den Nacken und niest ihr Mäuseniesen, mit dem sie die anderen unweigerlich zum Lachen bringt.
»Gesundheit, Wendyschatz.«
»Danke, Dickerchen.«
Geräusche huschen hin und her. Fast wie Glühwürmchen.
»He, Leute!«, sagt Howard. »Wollen wir
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