Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
lassen, hatte Wendy an der Hand genommen und war auf Ackermann zugegangen. In den Augen des Agenten las er Stolz und Respekt.
»Das ist meine Freundin Wendy.«
»Freut mich, dich kennenzulernen.«
Peter erinnert sich, dass Wendy errötete, als sie in Ackermanns eindrucksvolle graue Augen blickte. Er erinnert sich auch, dass er Eifersucht empfand, und die sah man ihm wohl an, denn Ackermann setzte seine dunkle Brille gleich wieder auf, wandte sich ab und ließ sich über sein Ohrmikrofon von seinen Leuten berichten, die unterdessen das Kolonialhaus gestürmt hatten. Aus Ackermanns zusammengepressten Lippen schloss Peter, dass sie die Leichen im Arbeitszimmer des Reverends entdeckt hatten. Ackermann nahm die Brille wieder ab, und Peter dankte ihm stumm für diese Offenheit im Augenblick der Wahrheit.
»Hast du mir bezüglich des Reverends etwas zu sagen, Pete?«
»Ja. Es macht mich traurig.«
»Und du, Wendy?«
Wendy legte den Kopf an Peters Schulter und antwortete: »Ich sage dasselbe wie Peter. Ich bin seine Freundin.«
»Und die übrigen Häftlinge, wo sind sie?«
»In ihren Zellen hinter dem Kolonialhaus. Sie müssten bald aufwachen.«
In dem Moment aber knisterte Ackermanns Funkempfänger, und eine aufgeregte Männerstimme meldete sich.
»Ackermann, hier Mullin. Wir sind vor dem Zellentrakt. Zwei Beamte sind eingedrungen und bereits nach zehn Metern zusammengebrochen. Sie hatten Krämpfe und spuckten Blut. Vor der Hauptleitung des Lüftungssystems fanden wir leere Kapseln. Sie haben irgendein Gift eingeleitet, während die Insassen schliefen.«
Mullins Stimme klang jetzt gedämpfter, und Peter vermutete, dass er, mit einer Sauerstoffmaske geschützt, unterdessen selbst das Gebäude betreten hatte und von einer Zelle zur anderen ging.
»Sie sind alle tot. Jungen und Mädchen. Alle haben sich erbrochen. Manche haben wohl noch versucht, zum Gitter zu gelangen. Scheiße, das ist das reinste Massengrab hier.«
Ackermann drehte den Ton leiser. Peter und Wendy zitterten unter der Decke, die ihnen jemand über die Schultern gelegt hatte.
»Und die Gefangenen in den unterirdischen Gängen?«, fragte Peter.
»Wir haben so viele gerettet, wie wir konnten.«
»Da war auch eine Jessica Brenner. Sie muss vierzehn Jahre dort unten eingesperrt gewesen sein.«
»Sie hat sich heute Nacht die Pulsadern aufgeschnitten.«
»Wie bitte?! Warum denn, Scheiße!«
»Beruhig dich, Peter.«
»Ich soll mich beruhigen? Vierzehn Jahre hat sie in dieser Hölle durchgehalten, und an dem Tag, an dem sie befreit werden soll, bringt sie sich um?«
»Das kommt häufig vor. Du kannst ja nichts dafür.«
Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Redemption spürte Peter, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen.
»Ich hör noch ihre Stimme. Die werd ich nie vergessen.«
»Sie war schon tot, Peter. Sie hat noch mit dir gesprochen, aber ihre Seele war schon sehr lange tot.«
Sogar jetzt, so viele Jahre später in Marcellus’ Einsiedelei, kommen Shepard die Tränen. Seine letzte Erinnerung an Redemption ist Wendys Geruch, als er sich an ihre Brüste schmiegte. An diesem letzten Morgen konnte er nicht mal mehr seine Kumpel umarmen. Das FBI hatte sie bereits in Krankenwagen geladen, die in verschiedene Richtungen davonfuhren. Ehe die Türen zufielen, hatte ihm Ezzie noch zugewinkt und vergnügt auf seine rote Uhr gedeutet. Dann fuhr auch der Krankenwagen mit Wendy davon, und ein paar Sekunden später war alles vorbei. »Wo tun Sie uns hin?«, fragte er Ackermann.
»In geschlossene Anstalten zur Genesung.«
»Zu den Irren?«
»Offener Vollzug. Mehr konnte ich beim Bundesgericht nicht rausschlagen. Wenn es euch besser geht, seid ihr frei, und euer Strafregister wird gelöscht.«
»Und Wendy?«
»Du musst ihr Zeit lassen, damit sie sich erholen kann, Peter. Du wirst sie wiedersehen.«
Damit stieg auch Peter in den Krankenwagen. Zum Abschied sagte Ackermann, eine Hand auf dem Türgriff: »Wenn du irgendwas brauchst, heute, morgen oder in zehn Jahren, ruf mich an.«
»Das mach ich.«
Peter hat den ganzen Raum inspiziert. Die letzten Fotos stammen aus jüngster Zeit. Marcellus beschattet jemanden. Er verfolgt einen Mann in der Menge. Schießt Bilder von einer korpulenten Gestalt an einer Straßenecke, an einer Kreuzung. Die Fotos sind verschwommen, schlecht zentriert. Der Mann dürfte Mitte vierzig sein. Er ist groß und dick, und er trägt immer dieselbe Latzhose. Marcellus hat Angst vor ihm: Das sieht man an den Bildausschnitten,
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