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Sünden der Nacht

Sünden der Nacht

Titel: Sünden der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tami Hoag
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nur wenig mit Gefühl zu tun.
    Er lehnte sich an den Spülstein, kniff die Augen zu und sah seinen Sohn vor sich. Kyle war sechs. Gescheit. Still. Wünschte sich zu Weihnachten ein Fahrrad. Nahm seinen Dad mit in die Schule während der Projektwoche und strahlte, während Vati den Erstkläßlern von seiner Arbeit als Polizist erzählte.
    » Polizisten helfen Menschen und beschützen sie vor Bösewichten. «
    Er konnte die Worte hören, konnte das Meer von kleinen Gesichtern sehen, seinen Blick auf dem Ausdruck schüchternen Stolzes bei Kyle ruhen lassen. So klein, so voller Unschuld und Vertrauen und all der anderen Dinge, die das Leben aus seinem Vater längst herausgeprügelt hatte.
    » Polizisten helfen Menschen und beschützen sie vor Bösewichten. «
    Ein lautes Stöhnen entrang sich Mitchs Kehle. Die Gefühle rissen sich los, die Stangen ihres Käfigs waren von Müdigkeit, Erinnerungen und Furcht geschwächt. Er schlug sich eine Hand vor den Mund und versuchte, sie wieder hinunterzuschlucken.
    Sein ganzer Körper bebte vor Anstrengung. Er durfte sie nicht rauslassen, sie würden ihn ertränken. Er mußte stark sein, mußte sich konzentrieren, alles andere ausschalten. Er hatte einen Job zu erledigen. Seine Tochter brauchte ihn.
    Die Hilfsmechanismen kamen, einer nach dem anderen:
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    Verdränge die Gefühle. Ignoriere sie. Lenke sie ab. Seine Stadt brauchte ihn. Josh Kirkwood brauchte ihn.
    Er riß die Augen auf und starrte aus dem Küchenfenster in das Samtgrau der Morgendämmerung, doch Kyles Bild war immer noch da.
    Dann verschwamm alles, wurde doppelt, teilte sich, und das Gesicht des zweiten Körpers kristallisierte sich heraus als Josh.
    Lieber Gott, bitte nicht. Tu ihm das nicht an. Tu das seinen Eltern nicht an. Tu mir das nicht an.
    Sorge schwappte wie eine eisige Welle über ihn.
    Ein Licht ging auf der anderen Seite der Allee an, in der Küche der Straussens. 6 Uhr. Jurgen war aufgestanden. Er war schon seit drei Jahren von der Eisenbahn pensioniert, aber hielt seinen Zeitplan immer noch so präzise ein, als würde er nach wie vor jeden Morgen zum Rangierbahnhof des Great Northern gehen. Um sechs Uhr aufstehen, Kaffeemaschine anstellen.
    Runter zum Big Steer Truck Stop an der Interstate und eine Star Tribune holen, weil Zeitungsjungs unzuverlässig sind. Nach Hause. Kaffee trinken, eine Schale heißes Müsli essen und dabei die Zeitung lesen. Da hatte er seine Ruhe, bis Joy aus dem gemeinsamen Bett stieg und mit dem Herunterbeten ihrer täglichen Litanei begann – ein täuschend sanfter, täuschend milder Kommentar zu allem, was auf dieser Welt nicht in Ordnung war, mit ihren Nachbarn, ihrem Heim, ihrer
    Gesundheit, ihrem Schwiegersohn.
    So wenig Lust er hatte, momentan seine Schwiegereltern zu sehen, seine Sehnsucht nach Jessie war stärker. Sie anzusehen, sie im Arm zu halten, real und lebendig und warm und süß, und in Sicherheit zu wissen. Er stieg wieder in seine Stiefel und trabte aus dem Haus, ohne sich die Mühe zu machen, sie zuzuschnüren.
    Jurgen kam in seinem üblichen Habitus – Jeans und ordentlich verstautes Flanellhemd – zur Hintertür des adretten Cape-Cod-138
    Hauses.
    Ein untersetzter Mann mit durchdringenden blauen Augen wie Paul Newman und militärisch kurz geschorenen grauen Haaren.
    »Mitch! Ich mach gerade Kaffee. Komm rein«, sagte er,
    überrascht, aber auch etwas verärgert, weil seine tägliche Routine gestört wurde. »Schon was Neues von dem Kirkwood-Jungen? Schlimme Geschichte.«
    »Nein«, erwiderte Mitch leise. »Noch nicht.«
    Jurgen drehte den Filter aus der Kaffeemaschine und streute einen Meßbecher Pulver hinein. Zu viel, wie immer. Joy würde wieder sagen, er wäre zu stark, wie immer und ihn dann trotzdem trinken, damit sie sich später über das Sodbrennen beklagen konnte, das sie davon bekam.
    »Setz dich. Du siehst furchtbar aus. Was bringt dich denn so früh hierher?«
    Mitch ignorierte die Stühle, die ordentlich um den Tisch aufgereiht standen. »Ich wollte Jessie sehen.«
    »Jess? Es ist sechs Uhr früh!« Der alte Mann sah ihn
    vorwurfsvoll an.
    »Ich weiß. Ich hab nur gerade Zeit«, murmelte Mitch. Er ging durch das Eßzimmer und die Treppe hoch. Sollte doch Jurgen denken, was er wollte.
    Jessie schlief in dem Zimmer, in dem ihre Mutter
    aufgewachsen war.
    Dasselbe Bett, dieselbe Kommode, dieselbe gebrochen weiße Tapete mit zartlila Teerosen. Jessie hatte, wie es eben ihre Art war, eine eigene Note hineingebracht – Aufkleber mit der kleinen

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