Sünden der Nacht
»Das gibt’s ja nicht!« Sie hielt sich entsetzt an der Tischkante fest, als hätte der Schock sie aus dem Gleichgewicht gebracht.
»Sie sind von Miami hierher gezogen? Sie haben Florida aufgegeben, um in dieser gottverlassenen Tundra zu leben?«
Mitch zog eine Braue hoch. »Muß ich annehmen, daß Ihnen unser schöner Staat nicht gefällt?«
»Ich mag den Sommer – der hier ganze drei Wochen dauert«, sagte sie trocken. »Der Herbst ist hübsch, vorausgesetzt, er wird nicht unter verfrühten drei Metern Schnee begraben. Und das war’s dann auch schon mit meiner Liebe, abgesehen von der Tatsache, daß ich eine Eingeborene bin. Meiner Meinung nach ist das Leben viel zu kurz, um die Hälfte davon im Winter zu verbringen.«
»Warum bleiben Sie dann hier? Mit Ihren Qualifikationen könnten Sie sich wahrscheinlich einen Job in wärmeren Gefilden aussuchen.« Er merkte es sofort, als sie ihre Verteidigungsbatterien einschaltete. Sie waren ein Spiegelbild seiner eigenen – gebaut, um zu schützen, abzuwehren, Außenseiter am Eindringen zu hindern.
»Familiäre Komplikationen«, lautete ihrer Erwiderung, dann konzentrierte sie sich auf ihr Brötchen. Sie zupfte ein Stück davon ab und spielte damit. Mitch bedrängte sie nicht weiter, aber es gab ihm zu denken. Welche Familie? Was waren das für Komplikationen, daß sie seinem Blick auswich? Ein weiterer loser Faden, an dem er zerren mußte. Ein weiteres Puzzlestück, das identifiziert und eingepaßt gehörte.
Sie warf den Konversationsball in sein Spielfeld zurück. »Und, was haben Sie in Miami gemacht?«
»Morddezernat. Ein Gastspiel bei der Sonderabteilung für Bandenkriminalität. Touristenmorde, Drogenrazzias in der feinen Gesellschaft – lauter große Geschichten.« »Ist das Leben hier nicht ein bißchen zu ruhig für Sie?«
Eine weitere Antwort mit Vergangenheit, dachte Megan und beobachtete ihn durch ihre Wimpern, während er einen tiefen Zug aus seiner Bierflasche tat. Ein weiterer Grund, den Kontakt mit ihm auf rein geschäftlicher Ebene zu halten. Sie brauchte die emotionellen Lasten eines anderen nicht, hatte selbst genug davon, um ein Samsonite-Kofferset zu füllen. Trotzdem ließ ihr die Neugier keine Ruhe, dieses Bedürfnis, Rätsel zu lösen und Geheimnisse aufzudecken. Sie schrieb dieses Bedürfnis ihrem Instinkt als Cop zu und stritt energisch ab, daß es etwas mit den mißtrauischen Schatten in seinen Augen zu tun hatte oder mit irgendeiner verworrenen Sehnsucht, eine verwundetes Herz zu trösten. Wenn sie auch nur eine Zelle Hirn besaß, würde sie Mitch Holt nicht als Mann betrachten.
Da hast du dir was Schönes vorgenommen, O’Malley, dachte sie, als er sich noch einen Schluck von seinem Bier genehmigte. Seine Augen waren schmal, sein fester Mund glänzte vor Feuchtigkeit, als er die Flasche absetzte. Im gedämpften Licht der Nische sahen seine Bartstoppeln dunkler, die Narbe auf seinem Kinn silbrig und bösartig aus. »Und wie sind Sie dann in den Polarkreis gekommen?« Sie riß noch ein Stück von ihrem Brötchen.
Mitch zog die Schultern hoch, als wäre es etwas Zufälliges, ohne Bedeutung, obwohl das der Wahrheit so entgegengesetzt lag wie eine
glatte Lüge. »Die Stelle war frei. Meine Schwiegereltern lebten hier. Es war eine Chance für meine Tochter, Zeit mit ihren Großeltern zu verbringen.«
Ihre Salate wurden serviert, zusammen mit einem Mitglied der Moose Lodge, das Mitch daran erinnern wollte, daß er bei ihrem Lunch am Freitag als Redner auftreten sollte. Mitch stellte Megan vor. Der Moose-Mann sah sie an und kicherte, als wollte er sagen: »Toller Witz, Mitch«. Er schüttelte Megan die Hand und beglückwünschte sie mit einem gönnerhaften Lächeln. »Sie sind Leos Nachfolger? Wie niedlich!«
Megan verkniff sich eine boshafte Bemerkung, eingedenk der Tatsache, daß sie selbst um diesen Posten gebeten hatte.
»Mr. Moose verabschiedete sich und wurde rasch von einem der Organisatoren des Snowdaze-Fackelzuges abgelöst. Sie besprachen die Details für die Absperrung der Straßen, durch die sich der Zug bewegen würde. Das Vorstellungsritual war praktisch eine Wiederholung des Vorhergehenden.
»Sie ist also Leos Nachfolgerin. Netter anzuschaun als Leo, was?« Megan biß die Zähne zusammen. Mitch enthielt sich sehr diplomatisch jeden Kommentars. Der Hackbraten kam, und der Paradenmann verabschiedete sich mit einem kurzen Zwinkern für Megan.
Sie konzentrierte sich auf ihren Teller. »Wenn noch ein einziger Mensch sagt,
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