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Sündenflut: Ein Merrily-Watkins-Mystery (German Edition)

Sündenflut: Ein Merrily-Watkins-Mystery (German Edition)

Titel: Sündenflut: Ein Merrily-Watkins-Mystery (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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auf den Tisch und beugte sich vor.
    «Noch als ich ein Junge war, sah es hier ganz anders aus. Heruntergekommene, schlechte Straßen, keine Einkaufsmöglichkeiten. Der Gastraum im
Black Swan
war zwar nicht direkt mit Sägespänen ausgestreut, aber Sie verstehen schon, was ich meine.» Er richtete sich auf und schüttelte seinen gelglänzenden Kopf. «Alkohol? Gewalt? Meine Güte, Leute, heutzutage reden alle übers Komasaufen, aber mein Großvater hätte Ihnen Geschichten erzählen können, bei denen Ihnen die Haare zu Berge stünden. Geschichten aus harten Zeiten, brutalen Zeiten. Niedrige Löhne, Armut, Krankheit …»
    Lol schüttelte ungläubig den Kopf.
    «Der redet doch Schwachsinn, oder? Sag mir, dass er Schwachsinn erzählt», flüsterte er Merrily zu.
    «Er redet Schwachsinn», sagte Merrily. «Aber intelligenten Schwachsinn.»
    Es stimmte, die Zeiten hatten sich geändert, und vieles war besser geworden. Aber einiges auch schlechter. Herefordshire, eine Grafschaft, die niemals reich gewesen war und in der niedrige Löhne und Armut tatsächlich an der Tagesordnung gewesen waren, geriet immer mehr aus dem Gleichgewicht. Dieses Dorf zum Beispiel war nicht mehr der beste Ort zum Leben, es sei denn, man war stinkreich. Hier gab es kein Gas, nur Ölrechnungen, die einen ruinierten. Und die jungen Leute aus dem Dorf konnten sich kaum die Miete leisten, wenn sie bei ihren Eltern ausziehen wollten.
    «Councillor Pierce.» James Bull-Davies, der die Versammlung leitete, hatte bis jetzt nichts gesagt; nun beugte er sich auf seinem hochlehnigen Stuhl vor, sodass das Licht auf die kahle Stelle auf seinem Kopf fiel. «Ich möchte anmerken, dass meine Familie mindestens seit dem fünfzehnten Jahrhundert hier ansässig ist. Wir wissen alle, wie benachteiligt diese Region früher war, aber ich sehe ehrlich gesagt nicht, welche Relevanz diese Tatsache heute für uns hat.»
    Vermutlich wusste er, dass er sich auf schwankendem Grund bewegte. Zu viele von James’ Vorfahren waren schließlich auf Kosten der benachteiligten Bauern fett und reich geworden. Pierce sah ihn nicht an.
    «Geben Sie mir noch einen Moment, Colonel. Noch vor fünfzehn Jahren war diese Gemeinde am Ende. Einige von Ihnen werden sich noch daran erinnern, dass wir nach einem langen und erbitterten Kampf unsere Grundschule verloren haben – weil wir nicht genügend Einwohner hatten.»
    James Bull-Davies funkelte Pierce wütend an.
Colonel
kam bei ihm nie gut an. Der Tod seines Vaters hatte ihn dazu gezwungen, seinen Abschied bei der Armee einzureichen, damit er den Familienbesitz übernehmen konnte. James hatte sein Schicksal angenommen, den Rücken durchgedrückt und mit diesem Kapitel seines Lebens abgeschlossen.
Colonel hier, Colonel da … eine zwecklose Anbiederung.
    Merrily beobachtete, wie Pierce ihn ignorierte. Er musste die anderen Leute erreichen. Sein größter Vorteil dabei war, dass die meisten noch nicht lange genug in Ledwardine lebten, um seine Absichten zu durchschauen.
    «Es heißt, mit einer Schule verliert ein Dorf seine Lebensenergie. Aber Ledwardine hat überlebt. Warum? Weil wir unsere Lektion gelernt haben. Wir haben gelernt, dass zum Überleben Wachstum notwendig ist.
Nicht
Stillstand.
Nicht
der Schutz dessen, was wir haben, wie in einem Museum, sondern sorgfältig geplantes, wohlüberlegtes Wachstum. Entweder man macht Fortschritte, oder man kommt ins Hintertreffen. Wachsen oder sterben. Habe ich recht?»
    Sein Blick suchte in dem schlecht beleuchteten Raum nach Unterstützung und glitt über Merrily hinweg, die den hübschen terrakottafarbenen Seidenschal trug, den ihr Lol aus London mitgebracht hatte.
    Pierce hatte innegehalten. Es war klar, dass er eine Pointe vorbereitete. «Jetzt nennt er uns gleich
meine geschätzten Ledwardiner Mitbürger
», sagte Lol.
    Merrily verbarg ein Grinsen hinter ihrem Wollhandschuh. Der Geruch nach frischem Wachs stieg von der Jacke auf, die zusammengefaltet auf ihrem Schoß lag. Auch die hatte ihr Lol gekauft. Ihre erste, nicht bloß nachgemachte Barbour-Jacke, die sie heute Morgen im Badezimmer noch einmal imprägniert hatte. Sie wünschte, sie hätte die Jacke an, denn die Heizung funktionierte bestenfalls sporadisch in dieser Gemeindehalle anno 1964 .
    Funktionierte die Heizung womöglich überhaupt nicht? Oder hatte Pierce dafür gesorgt, dass sie abgestellt wurde, damit die Halle noch weniger, wie er es ausdrücken würde,
zweckdienlich
erschiene? Wenn er noch lange redete, würde er bestimmt

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