Suess und ehrenvoll
was Karoline nicht wenig verblüffte. Frau Kronheim und Friedes Eltern bezeichnete er als Eltern gefallener Söhne und die Zwillinge als jüdische Kriegswaisen, die im Sinne ihres Vaters zu deutschen Patrioten erzogen werden würden.
Der Generalfeldmarschall schüttelte allen die Hand, strich den schlafenden Zwillingen über den Kopf und sagte: »Ich salutiere Ihnen als Juden und Deutsche.«
Friede antwortete im Namen aller: »Herr Generalfeldmarschall, wir haben heute diese beiden Kleinen mitgebracht, damit sie das Glück, Deutsche zu sein, in ihren ersten Lebenstagen mit der Muttermilch einsaugen. Es wird nie wieder einen Unterschied zwischen jüdischen und christlichen Deutschen geben, wir sind ein Volk und haben ein Vaterland.«
Hindenburg senkte sein schweres Haupt zum Zeichen der Zustimmung und deutete mit seinem Marschallstab einen militärischen Gruß an.
Als Friede und Karoline aus der Synagoge kamen, blieben sie stehen und sahen sich an. »Ich weiß, was du denkst, Karoline«, sagte Friede: »Wenn Ludwig das erlebt hätte…«
»…wäre es für ihn der Einzug ins Gelobte Land gewesen«, ergänzte Karoline. Wie bei der Feier traten ihr auch jetzt wieder die Tränen in die Augen. Friede warf einen Blick auf ihre Schutzbefohlenen, die in ihr das Familienoberhaupt sahen. Ihre Eltern, deren Lebensgeister ein wenig erwacht waren, als die Nachricht von Willis Heimkehr gekommen war, waren wieder in einen Dämmerzustand verfallen, als sie erkannt hatten, dass ihr Sohn als blinder Invalide zurückkehrte. Willi würde sein Leben lang von Friede abhängig sein. Sein Gesicht war versteinert. Die Feier hatte ihn bewegt, doch jetzt kehrte er in die Finsternis zurück, zu der er verurteilt war. Selma hatte ihre Lebensbasis verloren und würde mit Karoline und den Kindern bei Friede bleiben.
Friede sah ihre Eltern und Willi an. Ihr Blick streifte die prächtige, beleuchtete Fassade der Neuen Synagoge, aus der die letzten hochgestimmten Ehrengäste heraustraten, und blieb an den Zwillingen hängen. »Nach viereinhalb Jahren ägyptischer Finsternis«, sagte sie mit einem leisen Seufzer, »sehen wir endlich den Silberstreif am Horizont. Das Aufleuchten einer wahren Hoffnung.«
Karoline sah sie erstaunt an. »Von dir ein solches Pathos, Friede – das hätte ich nicht erwartet.« Die beiden Freundinnen lächelten sich an und umarmten sich mit Tränen in den Augen.
Feldmarschall Paul von Hindenburg (1847–1934) wurde 1926 zum Reichspräsidenten gewählt. 1933 ernannte er Adolf Hitler zum Reichskanzler.
Marschall Philippe Pétain (1856–1951) wurde nach der Niederlage von 1940 französischer Staatschef. Er berief das Vichy-Regime, das mit den Nazis kollaborierte, und übertrug die nazistischen Rassengesetze auf Frankreich. Im Juli 1942 begann die Regierung Pétain mit der Deportation der Juden in die deutschen Vernichtungslager. Trotz der intensiven Verfolgung gelang es 75 Prozent der französischen Juden, der Deportation und Ermordung zu entkommen, was vor allem auf die Hilfe vieler einfacher Franzosen zurückzuführen ist, die dabei oft ihr Leben riskierten. Dies galt leider nicht für die Juden von Bordeaux, die fast alle ermordet wurden, weil der Zugriff der Gestapo und der Pétain-Polizei zu schnell erfolgte.
Aufgrund der »Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen« mussten alle jüdischen Deutschen vom Januar 1939 an zusätzlich den Vornamen Israel oder Sara annehmen, sofern sie nicht ohnehin einen »typisch jüdischen« Vornamen trugen.
H ISTORISCHE P ERSONEN
UND A NMERKUNGEN
L EO B AECK (1873–1956), der damalige Gemeinderabbiner Berlins und Dozent der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, war im Ersten Weltkrieg Feldrabbiner.
M ELLI B EESE (1886–1925), erste deutsche Pilotin
L OUIS B ERNHEIM (1861–1931), belgischer Generalleutnant
A LFRED D REYFUS (1859–1935), französischer Offizier, der 1894 fälschlich der Spionage für Deutschland bezichtigt wurde.
O TTO F RANK (1889–1980), Vater der Anne Frank
W ILHELM F RANKL (1893–1917), deutscher Pilot, war Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Als Jagdflieger erzielte er 19 Abschüsse und erhielt den Orden Pour le Mérite.
Das Schicksal von Karolines Freundin Friede (eigentlich F RIEDA ) F RIEDMANN beschreibt Saul Friedländer in seinem Buch »Das Dritte Reich und die Juden« (München 2008). Ihre Brüder Julius und Max fielen an der Front, der dritte Bruder Willi verlor
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