Suess und ehrenvoll
Mannschaften und Führer –, sei es in den Kreidefelsen der Champagne, in den Sümpfen Flanderns oder auf dem elsässischen Bergrücken, sei es im unwirtlichen Russland oder im heißen Süden. Unendliche Leiden habt ihr erduldet, unvergängliche, fast übermenschliche Taten vollbracht, unvergleichliche Proben eures unerschütterlichen Mutes Jahr um Jahr abgelegt … Erhobenen Hauptes dürft ihr zurückkehren. Nie haben Menschen Größeres geleistet und gelitten als ihr. Im Namen des deutschen Volkes tiefinnigen Dank und noch einmal herzlichen Willkommensgruß in der Heimat.«
»Sehr richtig«, ertönte Willis Stimme aus der Limousine, »das kann ich bezeugen. Ich habe ja den Endsieg mit eigenen Augen gesehen«, fügte er in sarkastischem Ton hinzu.
Die Menge brach in lauten Beifall aus und zerstreute sich langsam, nachdem die Soldaten weitermarschiert waren. Friedes Limousine setzte sich wieder in Bewegung.
Die große Synagoge in der Oranienburger Straße war brechend voll. Im Publikum waren viele jüdische Soldaten in Uniform zu sehen. Am Eingang stand Rabbiner Rosenak in ordengeschmückter Paradeuniform, auf dem Kopf die Pickelhaube, den Helm mit der Stahlspitze. Sobald er Friedes Familie und ihre Gäste erblickte, ging er ihnen entgegen. Er erkannte Willi sofort und verstummte vor Erschütterung, als er begriff, dass er blind war. Nachdem er allen die Hand gedrückt und den Zwillingen über den Kopf gestrichen hatte, sagte er zu Friede: »Für Ihre Familie sind Plätze in der vordersten Reihe reserviert. Bitte kommen Sie gleich nach der Feier zu mir, ich habe eine Überraschung für Sie.«
Nachdem die Anwesenden Platz genommen hatten, ertönten Fanfarenstöße, und Rabbiner Rosenak führte den obersten Befehlshaber der Reichswehr, Paul von Hindenburg, in den Saal, gefolgt von einer Gruppe hoher Offiziere, die wie der Generalfeldmarschall Paradeuniform und Pickelhaube trugen. Das Publikum erhob sich respektvoll. Niemand wagte sich zu rühren, auch die Frauen und alten Leute standen stramm wie eine Ehrengarde. Rosenak geleitete Hindenburg zu einem vergoldeten, rot gepolsterten Prunksessel rechts vom Thoraschrein. Daneben standen die etwas weniger aufwendigen Sessel des Oberrabbiners und des Präsidenten der Reichsvertretung der Deutschen Juden und dahinter eine Reihe von Stühlen für das Gefolge des Feldmarschalls.
Rosenak hielt eine formvollendete patriotische Rede. Er erwähnte weder den Kaiser noch die Republik, sondern sprach in allen möglichen Variationen über Deutschland und die Armee, den Nationalhelden Hindenburg und die jüdischen Soldaten, die sich begeistert fürs Vaterland geopfert hatten.
Der Vorbeter trug ein Gebet für Deutschland, die Reichswehr und den Generalfeldmarschall vor, und der Oberrabbiner sprach, zu Hindenburg gewandt, den Segen, der beim Anblick eines nichtjüdischen Königs oder Herrschers rezitiert wird: »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der von seiner Herrlichkeit seinen Geschöpfen gegeben hat.« Dann sang der Chor, von der riesigen Orgel begleitet, vaterländische Lieder. Der alte, schwerleibige Hindenburg nickte ab und zu und hob seinen Marschallstab, um seinem Dank oder seiner Zustimmung Ausdruck zu verleihen.
Als die Feier zu Ende war, gingen Friede, ihre Eltern und Willi, den sie am Arm führten, zum Podium. Karoline und Frau Kronheim blieben mit Sara und Israel im Hintergrund. Selma hatte ihr Versprechen gehalten, dass die Zwillinge die Feier nicht stören würden. Bei der jüdischen Beschneidung wird dem Säugling etwas Wein auf die Zunge geträufelt, damit er den Schmerz vergisst und sich beruhigt. Sie hatte ein Fläschchen Rotwein in der Manteltasche in die Synagoge geschmuggelt und das altbewährte Rezept bei den Zwillingen angewandt. Und tatsächlich schlief das Pärchen während der gesamten Feier.
Als Rabbiner Rosenak Friede sah, sagte er mit einem Blick auf Karoline und Frau Kronheim: »Bringen Sie doch auch die beiden Damen mit den Kindern her.«
Nachdem Hindenburg den Honoratioren die Hand gedrückt hatte, führte Rosenak die Friedmanns und ihre Hausgäste zu ihm. Als Ersten stellte der Rabbiner ihm Willi vor, dem man trotz der schwarzen Brille seine Aufregung ansah. Er erstarrte vor Respekt und wäre nicht in der Lage gewesen, Hindenburg die Hand zu reichen, wenn Friede nicht nachgeholfen hätte.Dann stellte Rosenak ihm Friede und Karoline zu deren Überraschung als Kriegerwitwen vor – »jüdische Kriegerwitwen«, fügte er hinzu,
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