Süße Küsse nur aus Rache?
noch undenkbar für sie gewesen wäre.
Alles war für sie undenkbar gewesen. Sie hatte nichts, außer dem bisschen Geld, das man ihr bei Verlassen des Jugendheims mitgegeben hatte. Wer dafür verantwortlich war, dass sie überhaupt existierte, davon wusste sie kaum etwas. Vor allem nicht, wer sie gezeugt hatte – und vermutlich wusste dieser Mann das selbst nicht einmal. Und sicher war es ihm auch egal. Es kümmerte ihn wohl kaum, ob die Frauen, mit denen er geschlafen hatte, schwanger wurden.
Und was die Glückliche betraf – nun, Kat wusste nur aus den Unterlagen, dass ihre Mutter als unfähig galt, ihr eigenes Kind aufzuziehen. Die Sozialarbeiter waren aufgetaucht, als sie fünf war, und hatten sie hungrig, weinend und mit Blutergüssen auf den dünnen Ärmchen vorgefunden. Die letzte Erinnerung an ihr Zuhause war ihre Mutter, die der Polizistin und dem Sozialarbeiter Unflätigkeiten an den Kopf warf, als sie sie mitnahmen. Alles andere war wie ein verschwommener Nebel.
Sie hatte sich nirgendwo richtig zu Hause gefühlt und die Schule verlassen, sobald es möglich war. Allen Versuchen, sie etwas zu lehren, hatte sie sich verweigert. Es folgten immer neue Gelegenheitsjobs, weil sie entweder wegen Unpünktlichkeit an die Luft gesetzt wurde oder selbst ging, da sie nur ungern die Anweisungen anderer annahm.
Als Kat dann achtzehn war, wurde ihr etwas bewusst, das ihr Leben verändert hatte. Völlig verändert – für immer. Sie hatte sich Zugang verschaffen können zu ihrer Geburtsurkunde und dem Familienbuch. Immer noch erinnerte sie sich an diesen Moment, als sie auf die Papiere starrte und die knappgehaltene Eintragung las, die in Behördensprache verfasst war.
Vater unbekannt. Mutter polizeibekannt als Prostituierte und Drogenabhängige, Entzug abgelehnt. Mit 23 an Überdosis gestorben.
Hass war in ihr aufgeflammt. Hass auf die Frau, an die sie sich nur vage als eine Person erinnerte, die viel geschrien und sie geschlagen hatte. Eine Frau, die sie so oft allein ließ, dass sie sich manchmal sogar von Abfall ernähren musste, wenn der Kühlschrank leer war. Regelmäßig war ihr danach entsetzlich übel geworden. Eine Mutter, die Drogen mehr liebte als ihre eigene Tochter.
Ja, für eine solche Mutter konnte man nur Hass empfinden.
Dann hatte Kat den nächsten Eintrag gelesen – diesmal ging es um die Eltern ihrer Mutter.
Vater unbekannt. Mutter als Straßenprostituierte bekannt, Alkoholikerin. Wurde im Alter von 20 Jahren von einem Auto angefahren und dabei getötet. Tochter kam in Pflege.
Die Kälte, die sie dabei erfasste, traf sie bis ins Mark. Endlos lange starrte sie auf das Dokument. Und erkannte die Verdammnis, die darin lag. Die von der Mutter zur Tochter weitergegeben wurde. Von einer Generation zur nächsten. Dann hatte sie langsam, unendlich langsam den Kopf gehoben, ihre Augen brannten wie Feuer.
Aber ich nicht! Ich werde nicht den gleichen Weg einschlagen. Ich finde einen Weg heraus – ganz sicher!
Entschlossenheit durchflutete jede Faser ihres Seins. Von diesem Tag an war sie der Treibstoff, der Kat in ihrem Leben vorantrieb. Sie fand einen Weg aus dem scheinbar vorgezeichneten Schicksal und machte etwas aus sich. Kämpfte sich heraus aus dem trostlosen, gnadenlosen Mahlstrom, der sie mit sich in den Abgrund reißen wollte. Der schon ihre Mutter verschluckt hatte, und deren Mutter.
Offensichtlich gab es zwei Dinge, die sie unweigerlich in diesen Abgrund reißen könnten: Alkohol und Drogen. Ihre Mutter und deren Mutter hatten sich prostituiert, um ihre Sucht finanzieren zu können. Und auch Sex kam für Kat nicht infrage. Denn Sex bedeutete, ein vaterloses Kind zu bekommen und als alleinerziehende Mutter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. So, wie ihre Mutter, und deren Mutter …
Sex, Alkohol und Drogen – alles Gift.
Und absolut verboten für sie.
Genauso wie das ziellose Umherstreunen. Von jetzt an würde sie sich auf ein Ziel konzentrieren, das durchdacht war. Mit jedem Schritt, den sie machte, entfernte sie sich aus ihrem alten Leben in Richtung eines neuen, das so aussehen würde, wie sie es sich wünschte. Ein Leben, das sie für sich selbst erschaffen wollte.
Aber wie sollte sie das anstellen? Sie wollte arbeiten, hart arbeiten. Wenn sie nur wüsste, was? In der Schule hatte sie kaum gelernt, weil sie die Schule hasste. Was also könnte sie tun?
Es war Katya, die ihr den Weg gewiesen hatte. Katya, die sie in dem Obdachlosenheim kennenlernte, wo auch sie wohnte.
Weitere Kostenlose Bücher