Super Sad True Love Story
lernen – «
Priglaschaju was sa-stol
(Ich lade euch zu Tisch)» –, egal, wie reichhaltig und sämig ihr selbstgekochter Borschtsch auch geriet, ein Rezept, das von ihrer in Gomel geborenen Urururgroßmutter überliefert worden war (wie zum Teufel behalten diese amerikanischen Juden bloß den Überblick über ihre endlosen Ahnentafeln?).
Nein, sie war kein Ersatz. Tatsache war, dass meine Wange, wenn sie mich darauf küsste, hinterher weder wehtat noch nach Zwiebeln roch.
Zur Hölle
also mit ihren guten Absichten, hätten meine Eltern womöglich gesagt. Sie war eine Fremde, ein Eindringling, eine Frau, deren Liebe ich nicht erwidern konnte. Als ich sie in der Tür stehen sah, holte ich zum ersten und letzten Faustschlag meines Lebens aus. Ich traf sie mitten auf den erstaunlich schmalen Rumpf, wo gerade der letzte ihrer drei Söhne in weicher Behaglichkeit zu reifen begonnen hatte. Wieso boxte ich sie in den Bauch? Weil
sie
im Gegensatz zu meinen
Eltern
lebte. Weil sie jetzt alles war, was mir noch blieb.
Sie zuckte vor meiner lachhaften Attacke nicht einmal zurück. Sie setzte sich und nahm mich auf den Schoß, hielt meine winzigen Neunjährigen-Hände und ließ mich an dergebräunten Unendlichkeit ihres duftenden Halses weinen. «Entschuldigung, Missis Nettie», jaulte ich mit russischem Akzent, denn auch wenn ich in den Staaten geboren worden war, blieben doch meine Eltern meine einzigen Vertrauten, und ihre Sprache war die meine, heilig und angsterfüllt. «Ich glaube, sie in Auto gestorben!»
«Wer ist im Auto gestorben?», fragte Nettie. Sie erklärte mir, mein Vater habe sie angerufen und gebeten, eine Stunde auf mich aufzupassen, weil meine Mutter an ihrem Arbeitsplatz aufgehalten worden sei. Aber sie in Sicherheit zu wissen ließ meine Tränen nicht versiegen.
«Wir alle sterben», sagte Nettie, nachdem sie mich mit einer puderigen Kakao-Frucht-Mischung gefüttert hatte, die sie «Schoko-Banane» nannte und deren Zutaten und Zubereitung mir immer noch schleierhaft sind. «Aber eines Tages wirst du selbst Kinder haben, Lenny. Und dann wirst du aufhören, dir so viele Gedanken über den Tod deiner Eltern zu machen.»
«Warum, Missis Nettie?»
«Weil dann deine Kinder dein Leben sind.» Einen Augenblick lang klang das nachvollziehbar. Ich spürte die Gegenwart eines anderen Menschen, der sogar noch jünger war als ich, einer Art prototypischen Eunice, und die Furcht vorm elterlichen Tod wurde auf ihre Schultern abgewälzt.
Nach Auskunft der Akten des Ospedale San Giovanni in Rom starb Nettie Fine an Komplikationen im Verlauf einer «Lungenentzündung», nur zwei Tage nachdem ich ihr in der Botschaft begegnet war und wir uns im Flur lautstark über die Zukunft unseres Landes unterhalten hatten. Als ich sie damals sah, war sie bei bester Gesundheit, und die Behandlungsakten waren so dürftig, dass sie wie Satire wirkten. Ich weiß nicht, wer mir diese GlobalTeens-Nachrichten von einer «sicheren» Adresse aus geschickt hatte,darunter auch die mit der Frage, auf welche Fähre Noah gestiegen sei, Sekunden vor ihrer Zerstörung. Fabrizia DeSalva starb angeblich bei einem Motorrollerunfall eine Woche vor dem Bruch. Und Kinder habe ich nicht.
2.
Seit die erste Ausgabe meiner Tagebücher und der Textnachrichten von Eunice vor zwei Jahren in Peking und New York veröffentlicht wurde, hat man mir vorgeworfen, ich hätte meine Einträge in der Hoffnung auf eine spätere Publikation geschrieben, und noch unfreundlichere Geister beschuldigten mich der sklavischen Nachahmung der letzten Generation «literarischer» amerikanischer Schriftsteller. Ich möchte diese Fehleinschätzung den Lesern gegenüber entkräften. Als ich dieses Tagebuch vor vielen Jahrzehnten schrieb, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dass
irgendein
Text
jemals
eine neue Leserschaft finden könnte. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ein Unbekannter (oder auch mehrere) in meine und Eunice’ Privatsphäre eindringen und unsere GlobalTeens-Accounts plündern würden, um daraus den Text zusammenzustellen, den Sie jetzt auf Ihrem Display sehen. Das soll nicht heißen, dass ich ganz und gar in einem Vakuum schrieb. In mancherlei Hinsicht ist mein Geschreibsel ein Vorläufer der Flut von Tagebuchwerken zeitgenössischer sino-amerikanischer Autoren – beispielsweise Johnny Weis
Junge, ist mein Arsch müde
(Tsinghua-Columbia) oder Crystal Weinberg-Chas
Der Kinderzoo ist zu
(Audacious, HSB C-London ) –, die verlegt wurden, nachdem die
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