0867 - Die Pesthexe von Wien
Es war 21 Uhr. Bruder Laurentius betrat die Kapuzinerkirche, schaute kurz den breiten Mittelgang entlang zum Altar hin und kniete sich dann in die letzte Bank. Seit vielen Jahren schon verrichtete der Prior des Wiener Kapuzinerklosters sein privates Nachtgebet hier im Gotteshaus, das der »Heiligen Maria von den Engeln« geweiht war. Dabei war er so pünktlich, dass man getrost seine Uhr nach ihm stellen konnte. Dem fast zwei Meter großen, beleibten Mann wäre es nämlich nicht im Traum eingefallen, den Zeitpunkt jemals zu ändern. Das galt genauso für den Platz, an dem er betete. An einem anderen als hinten links direkt an der Wand hätte er sich nicht wohlgefühlt.
Während er sonst innige Zwiesprache mit dem Herrn hielt, konnte er sich heute kaum konzentrieren. Zu sehr machten ihm die unheimlichen Ereignisse zu schaffen, die Wien seit einigen Tagen im Würgegriff hielten. Sie gipfelten bis dato in einem plötzlich aufflammenden, blutrot leuchtenden Nachthimmel, über den lautlose, pechschwarze Blitze gezuckt waren. Zugleich hatten hunderttausende Raben, die vor dem leicht pulsierenden dämonischen Licht wie scharfe Scherenschnitte wirkten, ihre Bahnen gezogen. Nur eine Minute hatte dieser gespenstische Vorgang gedauert, sich aber so nachhaltig in die Wahrnehmung des Abtes eingegraben, dass ihn dieses Bild nie wieder loslassen würde. Schaden an seiner Seele nahm er dennoch nicht, dazu war er viel zu gefestigt im Glauben; zudem wusste er durch drei erfolgreiche Exorzismen um die ganz reale Existenz des Bösen. Jetzt aber wurde er mit Dimensionen konfrontiert, die er nicht für möglich gehalten hätte.
Als Gewohnheitstier sah Bruder Laurentius trotzdem keinen Anlass, wegen des Wirkens dämonischer Mächte, zumal sie ihn nicht direkt betrafen, auch nur einen Deut von seinen Gewohnheiten abzuweichen. So ging er nach dem Gebet zum Hochaltar, knickste und stattete danach den Seitenkapellen eine kurze Visite ab. Dass diese Vorgänge ritualisiert abliefen, verstand sich von selbst. In der Pietakapelle zur Rechten verweilte er einen Moment länger. Wie immer richtete er ein paar stumme Worte an den Seligen Marco d'Aviano, der hier zur letzten Ruhe gebettet lag.
Bruder Laurentius verehrte den päpstlichen Legaten und Wunderheiler, der eine zentrale Rolle bei der Errettung Wiens vor den Türken im Jahre 1683 gespielt hatte. Nur dank d'Avianos Überredungskunst hatte der polnische König Jan III. Sobieski trotz Beistandsvertrags mit Kaiser Leopold I. das Entsatzheer für die arg bedrängten Wiener, das schließlich die Entscheidung brachte, in Marsch gesetzt. Zudem galt d'Aviano als der größte Prediger seiner Zeit. Viel größer noch als der Augustiner-Barfüßer Abraham a Sancta Clara, dem Marco d'Aviano allerdings in herzlicher Freundschaft zugetan war Trotzdem hatten die beiden Mönche immer ein wenig gewetteifert, wer von ihnen nun wohl der bessere Prediger sei. Der Augustiner, auch als Schriftsteller tätig, hatte sich sogar hinreißen lassen, in einer seiner Schriften zu behaupten, er selbst und nicht d'Aviano sei der eigentliche Erretter der Stadt vor den Türken. So ein Unsinn! Aber diese kleinen Streitigkeiten zwischen den beiden empfand Bruder Laurentius als überaus sympathisch.
Der Abt lächelte versonnen vor sich hin. Dieser Moment der Ablenkung hatte überaus gutgetan. Danach ging er in den Vorraum und stieg durch das Treppenhaus in die Kapuzinergruft hinab. Bevor er sich zur Nachtruhe begab, kontrollierte er noch die Arbeit der Mönche, die allabendlich für die Sauberkeit in der Gruft sorgten. Die vielen tausend Touristen, die hier jeden Tag durchgingen, hinterließen viel Dreck und Abfälle, vor allem, wenn draußen schlechtes Wetter herrschte. Der Abt legte großen Wert auf Sauberkeit. Er vertraute seinen Brüdern, natürlich. Aber ein bisschen Kontrolle schadete nichts.
Bruder Laurentius betrat die Gruft durch den Ausgang. Vor Sarkophag 143, der die sterblichen Überreste Elisabeths enthielt und mit frischen Blumen geschmückt war, hielt er kurz inne. Viele Touristen besuchten ausschließlich wegen dieses Sarges die Gruft. Die Kaiserin Sissi, wie Elisabeth allgemein nur genannt wurde, war eben ein internationaler österreichischer Exportschlager und beinahe so etwas wie ein Nationalheiligtum. Der Abt seufzte leise. Auch er war für den Sissi-Kult durchaus empfänglich.
Gemessenen Schrittes ging er durch die berühmteste aller Habsburger Begräbnisstätten. Gelegentlich warf er einen Blick über
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