Survive
sich an, als sei all mein Blut in meine Zehen geschossen, und plötzlich ist mir ein wenig schwindlig, sodass ich mich für eine Sekunde mit der Hand an der Wand abstützen muss. Wenn ich hyperventiliere – und es wäre nicht das erste Mal – , werden sie mich niemals in dieses Flugzeug lassen. Ganz ruhig, Jane.
Ich drehe mich um, werfe einen Blick zurück zur Gruppensitzung, die sich gerade auflöst, und beobachte Old Doctor, der seine ganze Aufmerksamkeit einem Gespräch mit BS widmet. Ich schließe die Augen, hole tief Luft und konzentriere mich ganz darauf. Dann noch einmal: einatmen durch die Nase, ausatmen durch den Mund. Und ich spüre, wie mein Körper sich beruhigt und der Schwindel sich legt.
Ich nehme die Hand von der Wand, schlüpfe in mein Zimmer und stopfe alles Notwendige in meine Reisetasche. Natürlich brauche ich kein Gepäck, aber ich will nicht, dass mir eine neugierige Krankenschwester auf die Schliche kommt: »Wenn sie für eine Woche nach Hause fährt, warum lässt sie dann all ihre Sachen hier? Braucht sie keine Tasche? Alarmstufe rot, sofort Fahndung einleiten.« Sie sind dazu ausgebildet, diesen ganzen Quatsch zu bemerken, doch ich habe mich selbst dazu ausgebildet, ihnen nichts zu liefern, woran sie ihre Zeit und Energie verschwenden können. In fünf Stunden und sieben Minuten werde ich diese Schlacht gewonnen haben.
Ich blicke mich in meinem Zimmer um, und mein Magen rumort. Die rosafarbene Tagesdecke, die mir meine Mutter für den Winter mitgegeben hat, liegt zerknüllt und unordentlich auf dem Bett. Die Decke hat seit Ewigkeiten keine Waschmaschine mehr von innen gesehen, ist voll von altem Schweiß und trauriger Energie. Warum sehen die Betten von Depressiven immer alle gleich aus?
Ich spüre, wie mir eine Schweißperle den Nacken hinunterrinnt. Die Nerven, rede ich mir ein. Kopf hoch und mach dein Ding!
Ich sehe zu meinem Fenster, an dem ich endlose Stunden damit zugebracht habe, fieberhaft über die Zeit nachzudenken, die ich hier in Life House verschwendet habe. Ich gehe zum Nachttisch, ziehe die Schublade auf und nehme ein Foto heraus. Mein Vater und ich an Weihnachten.
Niemand weiß, dass ich dieses Foto besitze. Ich habe es aus einem der Alben meiner Mutter stibitzt. Sie hat Millionen von Bildern überall im Haus verteilt, und eigentlich hasse ich sie alle. Ich habe ihr das gesagt, und bei der Anmeldung hier in der Klinik habe ich es ganz bewusst darauf angelegt, es Old Doctor in ihrer Gegenwart zu erzählen. Da musste sie schniefen. Das hat mich traurig gemacht, nach außen hin jedoch lächeln lassen.
Ich halte das Foto hoch. Ich liebe sein Gesicht. Seine Haut war olivfarben und glatt, und seine Augen waren schokoladenbraun. Ein heftiger Schluchzer steigt in meiner Kehle auf, also küsse ich Dads Gesicht, und eine Träne fällt auf die glänzende Oberfläche. Ich wische sie schnell weg und lege das Foto ganz unten in meine Tasche.
Krankenschwestern hin oder her, ein paar Sachen brauche ich tatsächlich. Einen Block Papier, um meiner Mutter einen Abschiedsbrief zu schreiben. Ich werde ihn zwischen das Netz und das aufklappbare Tischchen an der Rückseite des Sitzes vor mir stecken.
Ich brauche meine Geldbörse, um von der Stadt zum Flughafen zu gelangen und um mein Flugticket aus dem Ticketautomaten holen zu können. Meine Mutter hat das Ticket per Kreditkarte gekauft und die Karte an die Klinik geschickt. Gestern hat man sie mir feierlich überreicht. »Jane, sie ist nur zum Abholen Ihres Tickets gedacht – Ihre Mutter setzt großes Vertrauen in Sie, und ich glaube, Sie haben es sich auch verdient.« Oh ja, das habe ich, mit jeder Lüge und jeder falschen Träne, die Sie geschluckt haben, Sir. Keine Sorge, Dr. Gallus, mit einer Kreditkarte auf den Putz zu hauen, ist in meinem Plan nicht vorgesehen.
Ich öffne mein Portemonnaie. Ich habe hundert Mäuse in bar. (Geld, das mir meine Mutter für Notfälle gegeben hat.) Ich ziehe die Taschenuhr meines Dads hervor und checke die Zeit. Noch drei Minuten bis zu meiner letzten Sitzung.
Was werde ich sagen? Es muss perfekt sein, denn Old Doctor ist nicht dumm. Falls er auch nur den leisesten Verdacht hat oder merkt, dass irgendetwas faul ist, bin ich erledigt. Kein Ausweis. Kein Flug. Kein Nirwana. Gaukle ich ihm jedoch irgendeine Enthüllung vor, nicht zu groß, aber auch nicht zu klein, wird er sich freuen, von seinem eigenen Genie ganz beseelt sein und sich keine Gedanken mehr über mich machen. Er ist schließlich auch
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