Tag der geschlossenen Tür
Welt. Lass sie endlich halten.
Das Schloss
E s ist Sonntagmittag. Mein Tag. Mein Namenstag, zweiundfünfzigmal im Jahr. Tag der Einsamen, denn wer keine Familie hat, der bleibt heute allein. Ich schwebe ein paar Zentimeter über meinem Bett. Meine Atmung ist ruhig, die Muskeln entspannt, meine Haut fühlt sich glatt an. Ich bin allein, und ich bin ganz da. Ich spüre sie noch und den ewigen Augenblick, der nachhallt, wie ein vergehender Duft, wie eine Fahne, deren letzte Spitze durch meinen Raum flattert. Was für eine Aufladung und Umpolung. Du hast mich so erfüllt. Mit dir. Mit deiner Zärtlichkeit und Zuwendung. Mit deiner Zeit, deinem Körper. Mit deinem ganzen Wesen. Nur für einen Moment, einige Minuten, die ich nie vergessen werde. Und jetzt werden wir uns nicht mehr sehen. Und die Sehnsucht wird wachsen und mich quälen, und dann wird sie schmelzen und verschwinden, und jemand anderes wird kommen. Es wird immer jemand anderes kommen. Und jede andere, die kommt, bist doch du. Ich stehe auf und ziehe mich an, mache mich bereit, um rauszugehen. In die strahlende Sonne dieses neuen Tages. Bob ist weg, das Zimmer, in dem er geschlafen hat, ist aufgeräumt, seine Sachen sind verschwunden, es sieht aus, als wäre er nie hiergewesen. Auf dem Bett liegt ein Haufen kleiner Blätter. Ich stelle voller Erstaunen fest, dass es Geld ist. Geld und ein Zettel, auf dem steht:
Cowboy, ich musste weiter. Danke für alles, war schön bei Dir, ich hoffe, wir sehen uns mal wieder. Anbei die Miete für die Zeit, die ich hier war.
Dein Freund
Ich zähle das Geld. Es sind zwanzigtausend Euro. Ungläubig zähle ich erneut. Zwanzigtausend Euro. Er war also doch in der Bank. Er hat uns alle verarscht. Aber wo hatte er das Geld versteckt? Ich werde es nie erfahren. Ich werde das Geld behalten. Wenn ich es zurückgeben würde, würde ich mich nur verdächtig machen. Ein Geschenk gibt man nicht zurück.
Ich stecke mir fünfzig Euro in die Tasche und verlasse das Haus. Schlendere durch die Stadt, lasse mich wie eine Solarzelle vom Licht aufladen und trage die Erinnerung an den gestrigen Moment in mir spazieren, so als wäre ich mit ihr jetzt gerade zusammen. In der Innenstadt stehen die Menschen auch am Sonntag vor den Scheiben der Geschäfte, um ihr Verlangen massieren zu lassen und um zu sehen, was sie am Montag kaufen wollen. Der Sonntag, als einziger Tag, an dem man nicht kaufen kann, dehnt und steigert das Verlangen. Der Jungfernstieg liegt platt und weiß da, kein Baum, kein Denkmal, nur ein unendlicher Taxistand, um die Kundentaktung zu fördern, das ist Eloquenz. Am Alsterpavillon, der ehemals mondänen Promenierperle, die jetzt ein Massenbistro beherbergt und einen dämlichen neumodischen Namen trägt, ist wie jeden Tag prollig aufgestylter Hirnitreff. Wo ist all der vornehme, zerkratzte Glanz hin?
Ich schwimme auf meinen eigenen Bildern durch die Gegenwart. Reihe mich ein in den Strom der braven Sonntagswanderer und umrunde langsam die Binnenalster. Irgendwann bleibe ich stehen, um ins Wasser zu schauen. Ein paar leere Wein- und Bierflaschen sind von der Strömung oder dem Wind an die Mauer des Alsterbeckens getrieben worden und tanzen auf den Wellen vor sich hin. Je länger ich zuschaue, desto mehr gewinnt dieser Tanz an Leben. Die Flaschen tanzen jede für sich in einem eigenen Rhythmus, ihre Bäuche liegen tief im Wasser, und die Hälse schwingen langsam und weit aus, die ganze Gruppe macht einen schwer betrunkenen und sehr ausgelassenen Eindruck. Aus der Ferne höre ich einen Schlager übers Wasser klingen: »Trink, trink, Brüderlein, trink …« Das Fest der Flaschen macht mich ganz benommen. Eine davon tanzt weiter außen, befreit sich aus der Strömung, treibt von den anderen weg in die Mitte der Alster. Je weiter sie treibt, desto ruhiger werden ihre Bewegungen, als hätte sie ihren eigenen Gang gefunden. Ich schaue ihr hinterher und vergesse die anderen. Ich bin ganz bei ihr. Auf großer Fahrt nach Nirgendwo. Hinter dem Schlüsselloch kommt immer das Schloss , denke ich.
Hinter dem Schlüsselloch kommt immer das Schloss.
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