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Tag der geschlossenen Tür

Tag der geschlossenen Tür

Titel: Tag der geschlossenen Tür Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rocko Schamoni
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spüre aber, dass ich zu schwach bin, und beschließe, lieber den Bürgersteig an der Straße zu benutzen. Was sind das nur für Kräfte, denen ich da ausgesetzt bin? Was sind das für Aufgaben, die mir da gestellt werden, und vor allem: Wer stellt sie mir? Wieso stehen andere vor der gloriosen Aufgabe, den Mount Everest zu besteigen oder die Erde allein in einem Segelboot zu umrunden, und mir wird die kleinste aller Aufgaben zugeschanzt: Überquere einen großen Platz in deiner Stadt – und scheitere daran! Was für eine Diskrepanz. Es gibt Menschen, die so frei sind, dass sie überall hingehen und alles tun können, was sie wollen. Was für ein wundervoller Ort muss die Welt für diese Menschen sein, denn sie können ihn ganz erfahren und begreifen. Ich hingegen kann ihn nur ersehen oder erlesen, denn die meisten Orte werden mir für immer verwehrt bleiben.
     
    Ich gehe langsam den Bürgersteig entlang, hinein ins Viertel, in dem ich wohne, und lasse meinen Blick über die Häuserfassaden streichen, entlang der Fenster, der Eingänge und der Läden, die ihre Waren an den Bürgersteigen ausbreiten. Ich gehe diese Wege seit vielen Jahren. Langsam, aber sicher verändert sich hier alles. Wo sind der Schmutz, die Schäbigkeit geblieben, wo die Schmierereien, der abgeblätterte Putz und die Plakate? All das scheint es nicht mehr zu geben, es ist entfernt worden, herausradiert aus dieser Stadt. Das heilige Schmutzige und die schmutzige Heilige sind verschwunden. Noch vor ein paar Jahren gab es hier leer stehende Häuser und verwilderte Hinterhöfe, in denen Unkraut, Müll und Ratten das Regiment übernommen hatten. Ein altes, löchriges, schönes Gebiss. Aber all die faulen Zähne sind gezogen worden. Die Lücken zwischen den Häusern wurden gefüllt, die maroden abgerissen oder renoviert. Langsam weichen die türkischen Gemüsehändler und die Freaks mit ihren Gerümpelläden und werden ersetzt durch Streetwareshops und Tapasbars.
    Ich verfolge all das mit einer stillen Beklommenheit. Denn ich will nicht sagen, dass immer nur das Alte das Bessere wäre, trotzdem verfolgt mich dieser Gedanke im Angesicht der Welt, die da vor mir entsteht, während eine andere versinkt. Ich vermisse das Unnütze hier in diesem Viertel und in der ganzen Stadt immer mehr. Ich liebe das Unnütze, denn schließlich bin ich ein Teil davon. Ich schaffe es einfach nicht, nützlich zu sein, ich habe eine Nützlichkeitsallergie, immer wenn ich etwas tue, an dem ich den Verdacht einer Nützlichkeit wittere, verwelkt in mir der Handlungsimpuls. Ich kann nur die Dinge zu Ende bringen, die keinem direkten Nutzen dienen. Also kann ich auch nicht der Gemeinschaft dienen, sie hat keinen Nutzen an mir. Und ewig höre ich die Worte meiner Mutter in mir nachklingen: Junge, was hat das denn für einen Nutzen? Was bringt dir das denn für einen Nutzen? Welchen Nutzen hat denn das Leben, das du führst? Was nützt das alles? Junge, was nützt das?
    Mutter, von deinem Kind soll nie wieder ein Nutzen ausgehen.
     
    Seit über fünfzehn Jahren wohne ich nun in diesem Viertel. Und während ich langsam zu verfallen beginne, während mein Körper erste Abnutzungserscheinungen zeigt, am Gebiss, im Gedärm, an den Gelenken, im Gesicht und natürlich im Gehirn, verjüngen sich das Viertel und seine Bewohner, eine meiner eigenen Entwicklung entgegengesetzte Bewegung. In meinen Enddreißigerjahren bin ich fast doppelt so alt wie die jüngsten Zuzöglinge. Vielleicht sollte ich demnächst von hier wegziehen, in eine Gegend, die meinem Zustand eher entspricht? Irgendwo an den Rand der Stadt, wo alterslose Menschen in gesichtslosen Behausungen wohnen. Wo mein Verfall und meine Nutzlosigkeit in der Gleichförmigkeit untergehen. Ich habe meine Chance gehabt. Jung und nutzlos zu sein ergibt eine sinnige Paarung, aber wenn man älter wird, muss man sich irgendwann für eine Funktion entschieden haben. Du musst dich entschieden haben, für das, was du sein willst in der Gesellschaft der Menschen. Du musst dich entscheiden!
    Das habe ich immer noch nicht getan. Man sieht es mir langsam an. Man sieht es mir langsam nicht mehr nach. Es ist nicht so, dass ich mich nicht schon mal festgelegt hätte. Auch für größere Zeiträume. In einem Plattenladen habe ich gearbeitet, für zwei Jahre. Kinovorführer war ich für acht Monate. In Kneipen und Bars habe ich hinter dem Tresen gestanden und Kuchen und Kaffee und Bier und Wein ausgeschenkt. Kolumnen für Zeitungen schreibe ich,

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