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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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sie sich. Sie gehen hinaus, entspannt und verwundert. Bitte fragen Sie mich nicht, warum ich so eine Stunde abgehalten hätte. Bewegen muß sich der Geist.

2
    W enn Sie in den frühen McKee-Tagen in einer meiner Klassen gewesen wären, hätten Sie einen schmächtigen jungen Mann Ende Zwanzig vor sich gesehen, mit widerspenstigem schwarzem Haar, chronisch entzündeten roten Augen, schlechten Zähnen und einer Trauermiene, wie man sie von Einwanderern auf Fotos von Ellis Island oder von Taschendieben kennt, die gerade verhaftet werden.
    Es gab Gründe für diese Trauermiene:
    Ich wurde in New York geboren und kam nach Irland, als ich noch keine vier war. Ich hatte drei Brüder. Mein Vater, ein Alkoholiker, ein wilder Mann, ein großer Patriot, allzeit bereit, für Irland zu sterben, verließ uns, als ich noch keine elf war. Eine Schwester starb als Säugling, Zwillingsbrüder starben, zwei Brüder wurden geboren. Meine Mutter bettelte um Essen, Kleidung und Kohle, um Teewasser kochen zu können. Nachbarn rieten ihr, uns in ein Waisenhaus zu geben, mich und meine Brüder. Nein, nein, niemals. Diese Schande. Sie ließ sich nicht unterkriegen. Wir wuchsen heran. Meine Brüder und ich gingen mit vierzehn von der Schule ab, arbeiteten, träumten von Amerika und fuhren einer nach dem anderen über den Atlantik. Meine Mutter kam mit dem Jüngsten nach und hoffte auf ein glückliches Leben bis an ihr seliges Ende. So gehört es sich ja in Amerika, aber wenn sie nicht gestorben wäre, würde sie heute noch vergeblich hoffen.
    In New York brachte ich mich mit Gelegenheitsjobs und schwerer körperlicher Arbeit durch, bis ich in die United States Army eingezogen wurde. Nach zwei Jahren in Deutschland konnte ich dank der GI-Bill aufs College gehen, um Lehrer zu
werden. Am College gab es Kurse über Literatur und Schreiben. Professoren, die noch nie selbst an einer Schule unterrichtet hatten, klärten uns darüber auf, wie man an einer Schule unterrichtet.
    Also, Mr. McCourt, wie war das, in, na, Sie wissen schon, in Irland aufzuwachsen?
    Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, ein neuer Lehrer, und tauche in meine Vergangenheit ein, um diese amerikanischen Teenager zufriedenzustellen, um zu erreichen, daß sie ruhig sind und in ihren Bänken sitzen bleiben. Ich hätte nie gedacht, daß meine Vergangenheit mir einmal so nützlich sein würde. Warum interessierte sich irgend jemand für mein elendes Leben? Dann wird mir klar, daß mein Vater genau das getan hat, als er uns am Kamin Geschichten erzählte. Er erzählte uns von sogenannten Seanachies, Männern, die durchs Land zogen und die vielen hundert Geschichten erzählten, die sie im Kopf hatten. Die Menschen gaben ihnen einen Platz am Feuer, damit sie sich aufwärmen konnten, gaben ihnen zu trinken und zu essen, was sie gerade hatten, und hörten sich endlose Stunden lang Geschichten und Gesänge an, und sie gaben ihnen eine Decke oder einen Sack zum Zudecken, wenn sie sich in der Ecke auf Stroh betteten. Wenn dem Seanachie nach Liebe war, stand vielleicht eine ältliche Tochter zur Verfügung.
    Ich hadere mit mir selbst: Du erzählst Geschichten, dabei solltest du unterrichten.
    Ich unterrichte ja. Geschichtenerzählen ist auch Unterricht.
    Geschichtenerzählen ist Zeitverschwendung.
    Ich kann’s nicht ändern. Ich verstehe mich nicht darauf, Vorträge zu halten.
    Sie sind ein Schwindler. Sie betrügen unsere Kinder.
    Die sehen das aber ganz anders.
    Die armen Kinder wissen es nicht besser.
    Ich bin ein Lehrer an einer amerikanischen Schule und erzähle Geschichten aus meiner Schulzeit in Irland. Das macht sie gefügiger
für den unwahrscheinlichen Fall, daß ich einmal etwas Handfestes aus dem Lehrplan durchnehme.
    Einmal scherzte mein Lehrer in Irland, ich sähe aus wie etwas, was die Katze hereingeschleppt hat. Die ganze Klasse lachte. Der Lehrer grinste mit seinen gelben Pferdezähnen, und in seiner Kehle rasselten Schleimklümpchen. Meine Klassenkameraden hielten das für Lachen, und als sie in sein Lachen einstimmten, haßte ich sie. Ich haßte auch den Lehrer, denn ich wußte, daß ich jetzt auf dem Schulhof tagelang nur der sein würde, den die Katze hereingeschleppt hat. Hätte der Lehrer dasselbe über einen anderen Schüler gesagt, hätte ich auch mitgelacht, denn ich war genauso ein Feigling und hatte eine Heidenangst vor dem Rohrstock.
    Einen hatten wir in der Klasse, der nicht mitlachte: Billy Campbell. Wenn die Klasse lachte, starrte Billy immer vor sich hin, und

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