Tag vor einem Jahr
Plötzlich wollte ich nur, dass dieses Gespräch ein Ende hatte. Ich wollte mit dem Rest meines Lebens weitermachen. Und ich wollte, dass der Rest meines Lebens so schnell wie möglich begann.
»Hör mir zu, Shane.« Ich wollte, dass er mich verstand. »Als du gegangen bist, war ich am Boden zerstört.« Er nickte, das konnte er verstehen. »Dann habe ich mich daran gewöhnt, dass du nicht da warst und nicht in Kontakt geblieben bist.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schüttelte bereits den Kopf.
»Tatsache ist, dass mir klargeworden ist, dass ich es mochte. Ich meine, ich mochte es, dass du – weg warst. Nein, nein, so meine ich das nicht. Was ich sagen will: Ich mag mich ganz gern, wenn du nicht in der Nähe bist. Ich habe lieber mit mir selbst zu tun, wenn du nicht da bist. Wenn du hier bist, mag ich mich nicht. Ich mag nicht, was du in mir siehst. Das bin ich nicht.« Hier brach ich ab, meine Zunge verhedderte sich in den Worten.
Das Schweigen hing zwischen uns wie ein schwerer Vorhang.
»Ich brauche mehr als das.« Und schließlich: »Ich verdiene mehr als das.« Ich war selbst überrascht.
»Wir würden dieses Gespräch nicht führen, wenn dieser Scheißkerl Brendan nicht gewesen wäre.«
»Er heißt Bernard.« Es war das einzige Mal, dass ich meine Stimme erhob.
Jetzt wusste er, dass es vorbei war. Er drehte sich um und ging, verschwand in dem winzigen Zimmerchen neben der Küche, das wir den Computerraum nannten, und schloss die Tür. Er erwartete nicht, dass ich ihm folgte.
Ich ging in mein Zimmer und stopfte alles, was ich brauchte, in eine Tasche. Ein Klicken war zu hören, und die Badezimmertür ächzte. Eingehüllt in Nebelschwaden trat Caroline in die Diele heraus. Ich konnte den Duft von Lavendel riechen und trat auf den Flur. Sie ging an mir vorbei ins Wohnzimmer, und zunächst dachte ich, sie würde
nicht mit mir sprechen. Sie ging zum Kaminsims, hob ihre Hand und griff hinter das Foto. Als sie sich wieder umdrehte, hielt sie etwas in der Hand. Einen Umschlag.
»Caroline, ich …« Sie ignorierte mich.
»Das ist gekommen«, war alles, was sie sagte.
»Was ist das?«
»Es ist für dich.« Sie legte es mir in die Hände. Einen Augenblick standen wir so da, ihre Hand in meiner. Sie wartete, bis ich sie ansah. Dann nickte sie kurz, bevor sie in ihr Zimmer verschwand, aber die Erinnerung an ihre Hand war warm. Ich sah hinunter.
Es war ein Brief. Ein richtiger Brief, meine ich. Mit einer richtigen Briefmarke. Mein Name und meine Adresse standen von Hand geschrieben vorne auf dem Umschlag. Der Umschlag war völlig zerknittert und an einer Ecke eingerissen. Er war übersät mit Briefmarken. Ich erkannte die Handschrift sofort. Sehr lange stand ich da und starrte den Brief nur an, voller Angst, ihn zu öffnen, voller Angst, es nicht zu tun. Ich betrachtete die Poststempel: Thailand, Australien, Papua Neuguinea, Mexiko, Mauritius, England und schließlich der Stempel von hier, wo er hingehörte.
Der älteste Poststempel stammte aus Thailand, er trug das Datum 11. März 2004. Der Brief hatte über ein Jahr gebraucht, um hierherzugelangen. Meine Hände zitterten, als ich den Umschlag abtastete. Das Papier fühlte sich unter meinen Fingern abgegriffen und feucht an. Ich drehte ihn herum, und bevor ich den Namen las, der auf der Rückseite stand, wusste ich, von wem er war. Laut Absenderadresse, die auf die Rückseite gekritzelt worden war, war er von der Jugendherberge im Hafen von Queenstown, Neuseeland, abgeschickt worden. Ich öffnete ihn vorsichtig. Im Inneren befand sich ein einzelnes Blatt, bedeckt mit seiner vertrauten Schrift. »Liebe Grace«, waren die ersten Worte.
53
Trotz des Regens war die Kirche voll mit Leuten. Aus den Kirchenbänken stieg ein altertümlicher Geruch nach Weihrauch und modriger Feuchtigkeit auf. Die meisten Anwesenden waren in Patricks Alter. Dem Alter, in dem er hätte sein sollen. Für uns würde er immer einunddreißig bleiben. Ich trug ein Outfit, zu dem sich Patrick vor langer Zeit wohlwollend geäußert hatte. Ein Kleid – in leuchtendem Orange -, das sich abscheulich mit der Farbe meiner Haare biss. Rosafarbene Rosen rankten sich den Leinenstoff entlang, der sich eng um meine Brust schmiegte und unmittelbar unterhalb der Knie endete. Die Farbenpracht hob sich eklatant von der Beerdigung im vergangenen Jahr ab, bei der wir alle in Schwarz gekleidet waren. Wer hätte gedacht, dass es so viele Abstufungen von Schwarz gab?
Ich war nervös. Viele
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