Tage der Freuden
ist nicht gut gewachsen, denn er hat nicht zu Ende erzählen wollen.« Er fühlte, wie aus dem Grunde seines Bewußtseins alles alte Leid an die Oberfläche stieg, und er sagte sich: »Der Tod jetzt wird mir eine Freude sein. Nicht sterben können, hier festgenagelt bleiben, jahrelang, und immer, wenn sie nicht bei mir ist, während eines Teils des Tages und die ganze Nacht daran denken müssen, daß sie bei einem anderen weilt! Und wenn sie jetzt zu mir kommt, so kommt sie, das ist sicher, nur meines Leidens wegen, denn wie sollte sie mich noch lieben? Einen Amputierten?« Plötzlich stockte er: »Und wenn ich sterbe, wer dann nach mir?«
Sie war dreißig Jahre alt, mit einem Satz übersprang er die Zeit, mehr oder weniger lang, die sie ihm nach dem Tode treu bleiben würde. Aber dann kommt ein Augenblick, er sagt: »Sie hat ein Teufelstemperament. Ich will leben, leben will ich, ich will gehen, ihr überallhin folgen können, schön will ich sein, ich will, daß sie mich liebt!«
Jetzt bekam er Angst, als er seinen röchelnden Atem hörte, er hatte Seitenstechen, seine Brust schien gegen den Rücken hin verengt, er konnte nicht atmen, wie er wollte, er wollte tief Atem schöpfen, und es gelang ihm nicht. Der Arzt kam. Honoré hatte nur einen leichten Anfall von nervösem Asthma. Als der Arzt fort war, wurde er noch trauriger. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn sein Leiden schwerer gewesen wäre, wenn man ihn bemitleidet hätte. Denn er fühlte wohl: wenn dies nicht ernst war, das andere war es, und er war verloren. Nun gedachte er aller körperlichen Leiden seines Lebens und war in Verzweiflung. Nie hatten ihn die Menschen beklagt, auch die nicht, die ihn am meisten liebten, sondern hatten alles auf seine »Nervosität« geschoben. In den furchtbaren Monaten, die seiner Unterredung mit Buivres gefolgt waren, hatte er sich um sieben Uhr morgens angekleidet, nachdem er die ganze Nacht hin und her gegangen war; sein Bruder, dessen Schlaf durch allzu üppige Diners oft stark gestört war, hatte damals zu ihm gesagt: »Du achtest zuviel auf dich! Auch ich schlafe manchmal nicht! Und dann, man bildet sich ein, daß man nicht schläft, aber ein wenig schläft man immer.«
Richtig war es, daß er zuviel auf sich achtete; auf dem Grunde seines Lebens ahnte er stets den Tod, der ihn nie ganz aus den Augen gelassen hatte und der sein Leben bedrohte, ohne es ganz zu zerstören. Nun stieg sein Asthma, er konnte kaum Atem schöpfen, seine Brust machte die furchtbarsten Anstrengungen, die schmerzlichsten, um Luft zu bekommen. Er fühlte klar den Schleier, der uns das Dasein verhüllt, den Tod, der uns innewohnt, wie er sich davonmachte, und er ahnte, was für eine erschütternde Sache es ist, zu atmen, zu leben. Dann fühlte er sich wieder dort, wo er getröstet war, und jetzt, was wurde aus ihm? Seine Eifersucht wurde zur Raserei in der Ungewißheit der künftigen Ereignisse und ihrer Notwendigkeiten. Er hätte SIE bei Lebzeiten hindern können, nun konnte er nicht leben, was dann? Sie sagte, sie würde ins Kloster gehen; war er erst tot, dann besann sie sich anders. Nein, nicht zweimal sich betrügen lassen, wissen ! – Wer? Gouvres, Alériouvre, Breives, Buivres? Alle sah er vor sich, er preßte die Zähne aufeinander, er fühlte in sich die wütende Revolte, die in diesem Augenblick sein Gesicht häßlich verzerren mußte. Er beruhigte sich selbst. Nein, kein Lebemann; es muß ein Mensch sein, der wahrhaft lieben kann. Aber weshalb will ich nicht, daß es ein Lebemann sei? Schon die Frage ist Wahnsinn, es ist so natürlich. Denn ich liebe sie um ihretwillen, ich will, sie solle glücklich sein. – Nein, es ist nicht deshalb, es ist, weil ich nicht will, daß man ihre Sinne aufpeitscht, daß man ihr mehr Freude schenkt, als ich ihr geben konnte, daß man ihr überhaupt Freude gibt. Ich will, man soll ihr Glück geben, Liebe, aber kein Vergnügen. Ich bin eifersüchtig auf das Vergnügen des andern, auf das Vergnügen an sich. Nicht eifersüchtig auf ihre Liebe. Es muß sein, daß sie heiratet … und doch, wie traurig das alles!
Nun kam einer seiner Kinderwünsche wieder, damals war er sieben Jahre alt und begab sich jeden Abend um acht Uhr zu Bett. Gewöhnlich blieb seine Mutter bis Mitternacht in ihrem Zimmer, welches dem von Honoré benachbart war, um dann schlafen zu gehen; wenn sie aber statt dessen gegen elf Uhr fortgehen wollte und bis dahin die Zeit zu ihrer Toilette verwandte, dann flehte er sie an, sich schon
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